Montgomery & Stapleton 07 - Die Seuche Gottes
der aufgerauten Drehgriffe langsam wieder nach oben, bis sie etwas erkennen konnte. Automatisch regulierte sie die Feinabstimmung und stellte das Bild scharf.
Erneut registrierte Laurie mit ehrfürchtigem Staunen die enorme zerstörerische Wirkung der Bakterien, die als kleine, scheibenförmige Häufchen in dem zweidimensionalen Sichtfeld des Mikroskops zu erkennen waren. Die normale, alveoläre Struktur der Lunge hatte sich unter dem Einfluss der von den Staphylokokken produzierten, gewebeschädigenden Toxine aufgelöst, sodass sich Abszesse in unterschiedlichen Größen gebildet hatten. Als sie den Objekttisch hin und her bewegte, konnte sie sehen, dass die Kapillarwände bereits unterschiedlich schwere Anzeichen einer Sepsis zeigten, was zu weiteren Einblutungen in die Giftbrühe, die bereits die Lungen füllte, geführt hatte. Das Ausmaß der Zerstörungen in der Lungenarchitektur erinnerte sie an Luftaufnahmen von Städten nach einem Luftangriff oder an eine Wohnwagensiedlung unmittelbar nach einem schweren Wirbelsturm.
Über eine Stunde dauerte es, bis Laurie jede einzelne Gewebeprobe sorgfältig untersucht hatte. Beim Blick durch das Hochleistungsobjektiv wurde Laurie noch klarer, wie groß die pathogene Wirkung der Bakterien, also ihre Fähigkeit, krankhafte Veränderungen in einem Organismus hervorzurufen, war, sie war tief beeindruckt. Als sie sich auf das Flimmerepithel konzentrierte, eine mit Flimmerhärchen besetzte Zellschicht, die beim gesunden Menschen den größten Teil der Atemwege auskleidet, konnte sie erkennen, dass das Gewebe sich wie eine Zwiebel in verschiedene Schichten aufgelöst hatte. Die kovalenten Bindungen hatten sich aufgelöst, und das Kollagen war in einzelne Moleküle zerfallen.
»Hallo, Schatz«, sagte Jack, der leise zur Tür hereingekommen war. Er wurde immer geschickter mit den Krücken. »Wie läuft’s denn so?«
Laurie hob den Kopf. Ihr Gesicht war noch eine Spur blasser als sonst.
»Was ist denn los?«, wollte Jack wissen. Sein Lächeln erstarb. »Du siehst ja schrecklich aus.«
Laurie atmete tief ein und stieß die Luft wieder aus. Der Anblick des zerstörten Lungengewebes war ihr auf den Magen geschlagen. Die Tatsache, dass diese Schädigungen innerhalb weniger Stunden bei einem vorher vollkommen gesunden Menschen aufgetreten waren, machte ihr noch einmal deutlich, wie zerbrechlich das menschliche Wesen im Grunde genommen war. Dass man sich als Mensch überhaupt einer gewissen Gesundheit erfreuen konnte, kam ihr wie ein Wunder vor.
Jack legte ihr die Hand auf die Schulter. »Jetzt mal ehrlich, ist alles in Ordnung mit dir?«
Laurie nickte und holte noch einmal tief Luft. Dann klopfte sie an das Objektivrohr ihres Mikroskops. »Wirf mal einen Blick da rein. Und denk daran, dass das wenige Stunden vorher noch ein völlig gesunder Mensch war.«
Laurie stieß sich vom Schreibtisch ab, um Jack Platz zu machen.
Dieser stellte seine Krücken beiseite und beugte sich über das Okular, doch auf halbem Weg hielt er inne, dann richtete er sich wieder auf.
»Moment mal«, sagte er misstrauisch. »Ist das eine Falle? Willst du mir etwa heimtückischerweise eine Gewebeprobe von deinem gestrigen MRSA-Fall unterjubeln?«
»Erinner mich nächstes Mal daran, dass ich nie wieder versuchen soll, dir etwas unterzuschieben«, sagte Laurie mit mattem Lächeln. Ihr Blutdruck hatte sich schnell wieder normalisiert, die Farbe war in ihr Gesicht zurückgekehrt, und auch der Anflug von Übelkeit war vorbei. Sie räumte ein, dass es sich um eine Probe von David Jeffries’ Lunge handelte.
Jack blickte durch das Okular, bewegte den Objekttisch in alle Richtungen und sah sich jeden Bereich der Probe an. »Donnerwetter«, sagte er. »Vollkommen zerstört. Die normale Struktur ist ja kaum mehr zu erkennen.«
»Ändert das vielleicht deine Einstellung in Bezug auf eine medizinisch nicht unbedingt notwendige Operation, bei der du es unter Umständen mit einem solch aggressiven Pathogen zu tun bekommst?«
»Laurie!«, schimpfte Jack.
»Also gut.« Laurie gab sich gleichmütig. »War ja bloß eine Frage.«
»Wie sind denn deine Obduktionen heute gelaufen? Ich hatte das Gefühl, dass du besonders konzentriert bei der Sache warst.«
»Ganz prima, besonders unter dem Gesichtspunkt der Ausbildung. Deshalb hat es auch länger gedauert, als ich gehofft hatte. Eigentlich wollte ich ja so schnell wie möglich wieder hier hochkommen und an meiner Tabelle weitermachen.« Sie klopfte auf ihren
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