Montgomery & Stapleton 10 - Testphase
hindurch, dabei blickte er ständig über seine Schulter, als ob er nach etwas Ausschau hielt.
»Er wird verfolgt«, platzte es aus Laurie heraus, die sich wieder vorbeugte. Zwei weitere asiatisch aussehende Männer waren die Treppen heruntergekommen, und so wie der erste drängten auch sie sich durch die Wartenden, einer von ihnen hielt einen Regenschirm, der andere hatte die Hände frei. Laurie beobachtete, wie die beiden Verfolger den anderen Mann genau in dem Moment erreichten, als die U-Bahn in den Bahnhof einfuhr. Laurie konnte die Männer kaum noch ausmachen, weil alle drei kleiner waren als die sie umgebenden Pendler. Eine kurze Zeit lang stand alles still, da die Leute, die aus dem Zug ausstiegen, auf die trafen, die hineinwollten. Schließlich setzte sich die Menge wieder in Bewegung. Laurie sah, wie der Mann mit der Tasche krampfte – oder zumindest machte es diesen Eindruck –, obwohl er aufrecht stand und seinen Kopf rhythmisch wiederholt nach hinten streckte, bevor er in sich zusammenfiel. Während immer mehr Fahrgäste einstiegen und die verbleibende Menge immer übersichtlicher wurde, beobachtete Laurie, wie die beiden Männer den dritten auf den Bahnsteig gleiten ließen. Jetzt war kein Zucken mehr zu sehen, aber die Tasche, die er vorher noch trug, befand sich jetzt im Besitz der anderen beiden. Laurie war klar, dass die beiden leicht seine Brieftasche entwendet haben könnten in der Zeit, in der sie ihn aufrecht gehalten haben, was erklären würde, warum man keine bei ihm fand, als er in der Notaufnahme ankam.
»Meine Güte!«, sagte Laurie. »Es war Raub!« Sie sah, wie Menschen weiterhin um den Körper, der mit dem Gesicht nach oben auf dem Boden lag, herumgingen und auch über ihn drüberstiegen. Diese Demonstration der Gleichgültigkeit der New Yorker erstaunte sie. Die einzige positive Reaktion kam von einem Mann an der Tür des Zuges, der ein Handy an sein Ohr führte. Laurie fragte sich, ob das wohl Robert Delacroix sei. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die beiden Asiaten, die ruhigen Schrittes aus dem Bild liefen.
Laurie hielt das Video an. Sie lief ins Schlafzimmer, weil sie Jack brauchte. Sie wollte, dass er das Video ansah, obwohl sie genau wusste, was er sagen würde: »Na gut, augenscheinlich war es Raub, aber vielleicht auch nicht. Vielleicht gehört die Tasche einem der anderen Männer, und er hat sie sich zurückgeholt. Die Hauptsache ist, dass die Autopsie ohne Befund ausfiel.«
Sie betrat das Schlafzimmer und überlegte es sich anders. Wie gewöhnlich, wenn Jack im Bett lesen wollte, war er bereits in tiefen Schlaf gesunken. Das gewichtige Lehrbuch, das er mit ins Bett genommen hatte, lag aufgeschlagen quer über seiner Brust. Vorsichtig hob Laurie es hoch und legte es auf den Nachttisch. Dann schaltete sie seine Leselampe aus. Dieses Ritual wurde fast jede Nacht durchgeführt. Anders als Laurie fiel es Jack weder schwer einzuschlafen noch aufzustehen, zwei Aktivitäten, die für Laurie immer schon mühsam gewesen waren.
Zurück im Wohnzimmer nahm Laurie die Disk aus dem DVD-Player und ging ins Arbeitszimmer zurück. Dort schob sie sie wieder in den Computer, wählte über das Menü Kamera fünf und durchsuchte die Datei, bis sie die beste Sicht auf die beiden anderen Männer gefunden hatte. Dieses Bild druckte sie aus. Mit einem Blick auf die beiden Männer änderte sich ihre Meinung über den Fall komplett. Ursprünglich war sie darüber enttäuscht gewesen, dass ihr erster Fall ein unbekannter Mann sein sollte, der eines natürlichen Todes gestorben war, ohne auch nur einen Hauch von Krankheit oder Ungewöhnlichem – also kaum ein Fall, der ihr Können herausforderte. Durch ihre Hartnäckigkeit hatte der Fall so viel an Bedeutung gewonnen, dass es ihre kühnsten Erwartungen übertraf.
Laurie spürte dieselbe Erregung, die sie früher schon bei komplizierten und ungewöhnlichen Fällen gepackt hatte. Sie konnte es kaum abwarten, am nächsten Morgen ins Büro zu gehen und die Testergebnisse zu sehen. Der Kern der Sache war, dass ihre Intuition sie nicht, wie sie befürchtet hatte, über die lange Arbeitspause hinweg verlassen hatte, sondern nach wie vor voll funktionsfähig war. Und diese Intuition sagte ihr, dass sie sich auf einige Überraschungen gefasst machen sollte. Ihr Plan sah vor, niemandem zu erzählen, was sie durch das Anschauen der Überwachungsvideos erfahren hatte, bis sie wusste, was den Mann getötet hatte. Laurie wusste, dass Ausübende einer
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