Montgomery u Stapleton 01 - Blind
Dann ging sie mehrere Treppen hinunter und holte Berichte aus der Toxikologie und der Serologie ab. Sie trug alles in ihr Büro und packte das gesamte Material auf den Schreibtisch. Dann machte sie sich an die Arbeit. Bis auf eine kurze Essenspause verbrachte sie den Tag damit, sich die histologischen Ergebnisse anzusehen, die Laborberichte zusammenzustellen, zu telefonieren und so viele Akten wie möglich abzuschließen.
Was Lauries Eifer anfachte, war die Gewißheit, daß man ihr am nächsten Tag mindestens zwei, vielleicht sogar vier neue Fälle zur Autopsie zuteilen würde. Wenn sie mit der Schreibtischarbeit nicht Schritt hielt, würde sie rettungslos verloren sein. Im Gerichtsmedizinischen Institut für New York City gab es nie Leerlauf, denn es wickelte jedes Jahr fünfzehn-bis zwanzigtausend Fälle ab. Das schlug sich in ungefähr achttausend Obduktionen nieder. Im Durchschnitt hatte das Institut jeden Tag zwei Morde und zwei Überdosen Rauschgift zu bearbeiten.
Gegen vier Uhr nachmittags begann Laurie zu ermüden. Umfang und Intensität der Arbeit forderten ihren Tribut. Als das Telefon zum hundertsten Mal klingelte, meldete sie sich mit müder Stimme. Als sie hörte, daß es Mrs. Sanford war, Dr. Binghams Sekretärin, richtete sie sich instinktiv in ihrem Sessel auf. Es kam nicht jeden Tag vor, daß sie einen Anruf vom Chef erhielt.
"Dr. Bingham möchte Sie gern in seinem Büro sprechen, wenn es Ihnen paßt", sagte Mrs. Sanford.
"Ich komme sofort", antwortete Laurie. Sie lächelte über Mrs. Sanfords Floskel "wenn es Ihnen paßt". Da sie Dr. Bingham kannte, war es wahrscheinlich Mrs. Sanfords Übersetzung von: Dr. Montgomery soll sofort runterkommen. Unterwegs versuchte sie vergeblich, sich vorzustellen, weswegen Dr. Bingham sie sprechen wollte; sie hatte keine Ahnung.
"Gehen Sie gleich rein", sagte Mrs. Sanford. Sie sah Laurie über den Rand ihrer Lesebrille an und lächelte.
"Machen Sie die Tür zu!" befahl Bingham, als Laurie eingetreten war. Er saß hinter seinem wuchtigen Schreibtisch. "Setzen Sie sich!"
Laurie setzte sich. Binghams verärgerter Ton war das erste Warnzeichen für das, was kommen sollte. Laurie wurde mit einemmal klar, daß sie nicht hier war, um belobigt zu werden. Sie sah zu, wie Bingham seine metallgefaßte Brille abnahm und sie auf den Terminkalender legte.
Laurie betrachtete Binghams Gesicht. Seine stahlblauen Augen wirkten kalt. Sie konnte das Geflecht der feinen Haargefäße erkennen, das seine Nasenspitze überzog.
"Sie wissen, daß wir ein Büro für Öffentlichkeitsarbeit haben?" begann Dr. Bingham. Sein Ton war sarkastisch, verärgert.
"Ja, natürlich", erwiderte Laurie.
"Dann müßten Sie auch wissen, daß Mrs. Donnatello für sämtliche Informationen zuständig ist, die an die Medien und die Öffentlichkeit gegeben werden."
Laurie nickte.
"Und Ihnen müßte auch bekannt sein, daß bis auf mich alle Mitarbeiter dieses Hauses ihre persönliche Meinung über die Arbeit des Instituts für sich behalten sollten."
Laurie gab keine Antwort. Sie wußte immer noch nicht, worauf dieses Gespräch hinauslief.
Unvermittelt sprang Bingham aus seinem Sessel auf und lief hinter dem Schreibtisch auf und ab. "Was Ihnen anscheinend nicht so gegenwärtig ist", fuhr er fort, "ist die Tatsache, daß die gerichtsärztliche Tätigkeit eine erhebliche soziale und politische Verantwortung mit sich bringt." Abrupt blieb er stehen und blickte Laurie an. "Verstehen Sie, was ich sage?"
"Ich glaube schon", sagte Laurie, aber sie hatte keine Ahnung, was der Grund für diesen gehässigen Angriff war.
"Es schon glauben reicht nicht ganz", höhnte Bingham. Er lehnte sich über seinen Schreibtisch und sah Laurie starr an.
Laurie wollte vor allem ihre Fassung bewahren. Sie wollte nicht emotional erscheinen. Sie verabscheute Situationen wie diese. Auseinandersetzungen waren nicht ihre starke Seite.
"Im übrigen", sagte Bingham bissig, "werden Verstöße gegen die Vorschriften über vertrauliche Informationen nicht geduldet. Ist das klar?"
"Ja", antwortete Laurie, gegen die aufkommenden Tränen ankämpfend. Sie war weder traurig noch böse, nur aufgebracht. Bei dem Arbeitsanfall, den sie in letzter Zeit bewältigt hatte, glaubte sie eine solche Behandlung nicht zu verdienen. "Darf ich fragen, was das alles soll?"
"Aber selbstverständlich", sagte Bingham. "Gegen Ende meiner Pressekonferenz über den Mord im Central Park stand einer der Reporter auf und verlangte Auskunft zu einer
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