Montgomery u Stapleton 01 - Blind
hatte er am Kragen gelockert. Auf seinem Gesicht lag ein jungenhaftes Grinsen.
"Laurie?" sagte er.
Laurie erkannte ihn plötzlich wieder. Es war Bob Talbot, ein Reporter von den Daily News, den Laurie aus der Collegezeit kannte. Sie hatte ihn länger nicht gesehen, und so hatte sie einen Moment gebraucht, ihn wiederzuerkennen. Obwohl sie gereizt war, lächelte sie.
"Wo hast du gesteckt?" wollte Bob wissen. "Ich habe dich eine Ewigkeit nicht gesehen."
"Ich war in letzter Zeit wohl etwas ungesellig", räumte Laurie ein. "Viel Arbeit, außerdem habe ich für meine gerichtsmedizinische Prüfung gelernt."
"Weißt du nicht, wie das endet, wenn man nur arbeitet und sich nicht vergnügt?"
Laurie versuchte zu lächeln. Der Aufzug kam. Sie trat hinein und hielt die Tür mit einer Hand auf.
"Was hältst du von dem neuen Schülerinnenmord?" fragte Bob.
"Gibt sicher eine Menge Ärger."
"Wirds wohl", meinte Laurie. "Er ist wie geschaffen für die Revolverblätter. Außerdem haben wir selbst offenbar auch schon Mist gebaut. Ich meine, es erinnert an das, was beim ersten Fall passiert ist. Für meine Kollegen erinnert es etwas zu sehr daran."
"Wovon redest du?" fragte Bob.
"Erstens waren die Hände des Opfers nicht eingepackt", erklärte Laurie. "Hast du nicht gehört, was Dr. Bingham gesagt hat?"
"Doch, aber er hat gesagt, das mache nichts."
"Es macht etwas", sagte Laurie. "Außerdem landeten die Kleidungsstücke des Opfers in einer Plastiktüte. Das ist streng verboten. Feuchtigkeit begünstigt die Entwicklung von Mikroorganismen, die Hinweise beeinträchtigen können. Das ist eine weitere Panne. Dummerweise ist der mit dem Fall betraute Pathologe einer unserer jüngeren Kollegen. Von Rechts wegen müßte es jemand mit mehr Erfahrung sein."
"Offenbar hat der Freund schon gestanden", sagte Bob. "Ist das nicht alles etwas akademisch?"
Laurie zuckte die Schultern. "Bis der Prozeß anläuft, überlegt er es sich vielleicht anders. Sein Anwalt macht das auf jeden Fall. Dann kommt es auf die Beweise an, sofern es keinen Zeugen gibt, und bei solchen Fällen gibt es selten einen Zeugen."
"Vielleicht hast du recht", sagte Bob und nickte. "Wir werden sehen. Jetzt gehe ich am besten wieder in die Konferenz. Wie wärs mit Dinner, irgendwann die Woche?"
"Vielleicht", sagte Laurie. "Ich will keine Ausflüchte machen, aber ich muß wirklich etwas tun, wenn ich diese Prüfung schaffen will. Ruf einfach an, dann reden wir darüber."
Bob nickte, während Laurie die Aufzugstür losließ, die sich schloß. Sie drückte den vierten Stock. In ihrem Büro angekommen, rief sie Dr. Murray im Manhattan General an und berichtete ihm, was Dr. Washington gesagt hatte.
"Danke für Ihre Bemühungen", sagte Dr. Murray. "Es ist gut, wenn man sich bei derartigen Umständen an irgendwelche Richtlinien halten kann."
"Achten Sie darauf, daß die Fotos gut werden", mahnte Laurie.
"Andernfalls könnte sich die Verfahrensweise ändern."
"Keine Sorge", beruhigte Dr. Murray sie. "Wir haben eine eigene Fotoabteilung. Das wird ganz professionell gemacht."
Laurie legte den Hörer auf und ging zu ihrem Lockenstab zurück. Sie machte ein halbes Dutzend Aufnahmen aus verschiedenen Blickwinkeln und bei unterschiedlichen Lichtverhältnissen. Nachdem sie den Lockenstab weggepackt hatte, widmete sie sich dem noch ungeklärten Fall, der sie auch am stärksten beschäftigte: dem des zwölfjährigen Jungen.
Laurie begab sich hinunter ins Erdgeschoß und suchte Cheryl Myers auf, eine der gerichtsmedizinischen Ermittlerinnen. Sie erklärte ihr, daß sie weitere Augenzeugen des Zwischenfalls brauche, bei dem der Junge von dem Softball getroffen worden war. Ohne positive Ergebnisse bei der Autopsie würde sie persönliche Berichte brauchen, um ihre Diagnose Commotio cordis, Tod durch einen Schlag auf die Brust, zu untermauern. Cheryl versprach, sich sofort darum zu kümmern.
Dann ging Laurie in die Histologie, um zu prüfen, ob sich die mikroskopischen Gewebeuntersuchungen im Fall des Jungen beschleunigen ließen. Da sie wußte, wie verzweifelt die Familie war, wollte sie ihren Teil zur Klärung der Tragödie schnellstmöglich beitragen. Sie meinte, die Familien akzeptierten die Wahrheit eher, wenn sie sie erst einmal kannten. Das Gefühl der Ungewißheit über einen Tod aus unbekannter Ursache verstärkte nur den Schmerz.
In der Histologie nahm Laurie ausgewertete Objektträger von Fällen an sich, deren Autopsie sie in der letzten Woche vorgenommen hatte.
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