Montgomery u Stapleton 01 - Blind
Bemerkung, die Sie gemacht hatten, daß nämlich der Fall von diesem Institut mangelhaft durchgeführt worden sei. Haben Sie das einem der Reporter gesagt oder nicht?"
Laurie sank, auf ihrem Stuhl zusammen. Sie versuchte, Binghams starrem Blick standzuhalten, mußte die Augen jedoch niederschlagen. Verlegenheit, Schuld, Zorn und Unmut stiegen in ihr auf. Sie war fassungslos, daß Bob so wenig Gespür, geschweige denn Achtung vor ihrer Vertraulichkeit hatte. Als sie ihre Sprache wiederfand, sagte sie: "Ich habe etwas in der Richtung erwähnt."
"Ich dachte es mir", bemerkte Bingham selbstgefällig. "Ich wußte, daß der Reporter nicht die Unverfrorenheit haben würde, etwas Derartiges zu erfinden. Betrachten Sie sich als gewarnt, Dr. Montgomery. Das ist alles."
Laurie wankte aus dem Büro des Chefs. Gedemütigt, wagte sie nicht einmal, einen Blick mit Mrs. Sanford zu wechseln, um nicht die Kontrolle über die zurückgehaltenen Tränen zu verlieren. In der Hoffnung, niemandem zu begegnen, lief sie die Treppe hinauf, ohne nur daran zu denken, auf den Aufzug zu warten.
Sie war sehr erleichtert, daß die Kollegin, mit der sie das Büro teilte, offensichtlich noch im Sektionssaal war. Laurie schloß die Tür hinter sich und setzte sich an ihren Schreibtisch. Sie fühlte sich vernichtet, als wären die Monate harter Arbeit wegen einer dummen Indiskretion umsonst gewesen.
Mit plötzlicher Entschlossenheit griff sie zum Telefon. Sie wollte Bob Talbot anrufen und ihm sagen, was sie von ihm hielt. Aber dann zögerte sie und ließ den Hörer wieder los. Sie hatte im Moment nicht die Kraft für eine weitere Auseinandersetzung. Sie holte tief Luft und atmete langsam wieder aus.
Sie versuchte, sich wieder an die Arbeit zu machen, konnte sich aber nicht konzentrieren. Statt dessen öffnete sie ihre Aktentasche und warf einige der noch nicht abgeschlossenen Akten hinein. Nachdem sie ihre übrigen Sachen zusammengepackt hatte, fuhr sie mit dem Aufzug ins Untergeschoß und trat über die Laderampe des Leichenschauhauses auf die 30th Street. Sie wollte nicht das Risiko eingehen, irgend jemandem im Eingangsbereich zu begegnen.
Es paßte zu ihrer Stimmung, daß es noch immer regnete, als sie die First Avenue entlangging. Die Stadt sah trostloser aus als am Morgen unter der Glocke aus beißenden Abgasen, die zwischen den Häusern rechts und links der Straße hing. Laurie hielt den Kopf gesenkt, um den ölverschmutzten Pfützen, dem Müll und den Blicken der Obdachlosen auszuweichen.
Selbst ihr Wohnhaus wirkte schmutziger als sonst, und als sie auf den Aufzug wartete, widerte sie der jahrzehntealte Geruch von gebratenen Zwiebeln und fettem Fleisch an. Als sie im vierten Stock ausstieg, starrte sie in Debra Englers blutunterlaufenes Auge, das sie reizte, etwas zu sagen. Als Laurie endlich in ihrer Wohnung war, schmiß sie die Tür so heftig zu, daß ein gerahmter Klimt-Druck, den sie im Metropolitan Museum gekauft hatte, an der Wand verrutschte.
Sogar der muntere Tom, der ihr um die Beine strich, als sie Mantel und Schirm in den schmalen Flurschrank hängte, konnte sie nicht aufheitern. Sie ging ins Wohnzimmer und ließ sich in den Sessel fallen.
Tom, der beachtet werden wollte, sprang auf die Rückenlehne des Sessels und schnurrte Laurie direkt ins rechte Ohr. Als das nicht half, tippte er mehrmals mit der Pfote auf ihre Schulter. Schließlich reagierte sie, faßte nach oben und hob die Katze in ihren Schoß, wo sie sie geistesabwesend streichelte.
Während der Regen wie Sandkörner gegen ihr Fenster prasselte, beklagte sie ihr Leben. Zum zweitenmal an diesem Tag dachte sie daran, daß sie noch nicht verheiratet war. Die kritischen Worte ihrer Mutter schienen durchaus berechtigt. Erneut fragte sie sich, ob sie den richtigen Beruf gewählt hatte. Was würde in zehn Jahren sein? Konnte sie sich vorstellen, immer noch allein im gleichen unentrinnbaren Alltagstrott zu stecken und sich mit der Schreibtischarbeit abzustrampeln, um mit den Autopsien Schritt zu halten? Oder würde sie vermehrt Verwaltungsaufgaben wahrnehmen wie Bingham?
Mit einer Art Schock erkannte Laurie, daß sie nicht den Wunsch hatte, Chef zu werden. Bis zu diesem Augenblick war sie stets bemüht gewesen, sich hervorzutun, im College wie an der Universität, und der Wunsch, Chef zu werden, hätte in dieses Bild gepaßt. Sich hervorzutun war für Laurie so etwas wie Rebellion gewesen, ein Versuch, ihren Vater, den berühmten Herzchirurgen, dazu zu bringen, daß er
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