Montgomery u Stapleton 01 - Blind
lieb war. Die Erkenntnis verunsicherte sie. Sie liebte es, sich weiblich zu kleiden, aber sie hatte etwas gegen das Klischee von der zerbrechlichen, launischen Frau. In Zukunft würde sie sich um mehr Professionalität bemühen. Sie erkannte auch, was für einen Fehler sie gemacht hatte, Bob zu vertrauen. Sie würde darauf achten müssen, ihre Meinung für sich zu behalten, insbesondere vor der Presse. Sie war froh, daß Bingham sie nicht gefeuert hatte.
Die Dusche erfrischte sie, und sie nahm sich vor, einen Salat zu machen und anschließend für die Prüfung zu lernen. Dann wieder dachte sie an das Dinner bei ihren Eltern am nächsten Abend. Obwohl ihre erste Reaktion absolut negativ gewesen war, fing sie jetzt an, anders darüber zu denken. Vielleicht würde es ganz interessant und unterhaltsam werden. Dann fragte sie sich, wie unausstehlich der frisch geschiedene Augenarzt und wie alt er wohl sein mochte.
2
Montag, 21.40 Uhr
Queens, New York City
"Ich muß was unternehmen", sagte Tony Ruggerio. Unruhig rutschte er auf dem Beifahrersitz von Angelo Facciolos schwarzem Lincoln Town Car hin und her. "Wir sitzen jetzt schon vier Abende vor DAgostinos Lebensmittelladen. Ich halte dieses Nichtstun nicht aus, verstehst du? Ich brauche Action, irgendwas, egal was." Seine Augen suchten nervös die regenglänzende Straße ab. Der Wagen parkte neben einem Hydranten auf der Roosevelt Avenue.
Angelos Kopf drehte sich langsam zur Seite. Die Augen unter den Lidern betrachteten diesen vierundzwanzigjährigen "Jungen", der ihm da aufgehalst worden war. Tonys Nervosität und seine impulsive Art stellten Angelos Geduld auf eine harte Probe. Er hielt den "Jungen", der den Spitznamen "das Tier" hatte, für eine Belastung in seiner Branche und hatte das auch schon Cerino gesagt. Aber es hatte nichts gebracht. Angelo hätte genausogut an eine Wand reden können. Cerino meinte, das Plus des Jungen sei, daß er keine Angst habe; er war unbeherrscht und ehrgeizig und hatte keine Skrupel und kaum Gewissen. Cerino meinte, daß er mehr Leute wie Tony brauche. Angelo war da nicht so sicher.
Tony mit seinen einssiebzig war gedrungen und kräftig. Was ihm aufgrund seiner Figur fehlte, um Eindruck zu machen, versuchte er durch Muskelkraft wettzumachen. Er trainierte regelmäßig in der American Gym in Jackson Heights. Er hatte Angelo erzählt, daß er außerdem Proteine nahm und gelegentlich auch Steroide.
Tony hatte weiche, eindeutig süditalienische Gesichtszüge und glänzendes, dichtes schwarzes Haar. Seine Nase war ziemlich breit und flach und nach rechts abgewinkelt, die Folge irgendwelcher Amateurboxkämpfe. Er war in Woodside aufgewachsen und vorzeitig von der High-School abgegangen, wo er sich häufig wegen seiner Figur und auch wegen seiner Schwester Mary geprügelt hatte, die ein fesches Mädchen war, wie er sich ausdrückte. Er hatte seine Schwester immer beschützt, weil er glaubte, daß alle Männer das gleiche wollten wie er selbst, wenn es um Frauen ging.
"Ich kann nicht länger hier rumhocken", sagte Tony. "Ich muß raus." Er griff nach dem Türöffner.
Angelo legte die Hand auf Tonys Arm. "Bleib ruhig!" sagte er mit hinreichend drohender Stimme, um Tony zurückzuhalten. Cerino hatte auf jeden Fall recht gehabt, sie zusammenzustecken. Angelo, der "Schönling", war der ideale Gegenpol für den ungestümen Tony. Er sah älter als vierunddreißig aus. Im Gegensatz zu Tony war Angelo groß und hager, mit scharfen, kantigen Gesichtszügen. Wie Tony unter seiner geringen Körpergröße, litt Angelo unter seiner Haut. Sein Gesicht trug die Narben einer beinahe tödlich verlaufenden Erkrankung an Windpocken mit sechs Jahren und einer schweren Akne vom vierzehnten bis zweiundzwanzigsten Lebensjahr. War Tony aufbrausend und impulsiv, war Angelo vorsichtig und berechnend: Ein scheinbar ruhiger Soziopath, dessen Wesen geprägt worden war durch eine endlose Reihe von Heimaufenthalten und zuletzt eine harte Zeit in einem Hochsicherheitsgefängnis.
Beide Männer waren ziemlich eitel, was die Kleidung betraf. Aber Tony gab nie so richtig die Figur ab, die ihm vorschwebte; seine Anzüge, egal wie teuer, saßen immer schlecht an seinem unproportionierten, muskelbepackten Körper. Mit Angelos Eleganz zu konkurrieren, hatte es dagegen selbst ein Dressman schwer. Er kleidete sich nicht überkandidelt, aber makellos. Er trug ausschließlich Anzüge, Hemden, Krawatten und Schuhe von Brioni. Waren Tonys Muskelpakete eine
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