Montgomery u Stapleton 06 - Crisis
tragische Weise verloren hat. Das ist für ihn sehr schmerzlich.«
»Mag sein, aber es erklärt nicht seine Abneigung gegen mich.«
»Wie kommst du denn darauf? Hat er jemals behauptet, er könne dich nicht leiden?«
Craig sah Alexis für den Bruchteil einer Sekunde an. Er hatte sich selbst in die Enge getrieben und wusste nicht, wie er wieder herauskommen sollte. Jack Stapleton hatte nie etwas dergleichen gesagt; Craig hatte nur immer so ein Gefühl gehabt.
»Es tut mir leid, dass du glaubst, Jack würde dich nicht mögen. In Wahrheit bewundert er dich, das hat er mir selbst gesagt.«
»Wirklich?« Craig war verblüfft, denn eigentlich war er davon überzeugt, dass genau das Gegenteil der Fall war.
»Ja, Jack hat gesagt, dass du zu der Art von Studenten gehörtest, denen er an der Universität und während der Facharztausbildung aus dem Weg gegangen ist. Du bist einer von denen, die die gesamte empfohlene Lektüre lasen, irgendwie alle noch so unwichtigen Fakten kannten und ausführlich aus der neuesten Ausgabe des New England Journal of Medicine zitieren konnten. Er hat zugegeben, dass diese heimliche Bewunderung sich in einer gewissen Geringschätzung geäußert hat, aber in Wirklichkeit wünschte er sich, er hätte sich genauso engagiert dem Studium widmen können wie du.«
»Das ist sehr schmeichelhaft. Wirklich. Ich hatte ja keine Ahnung! Aber ich frage mich, ob er das nach meiner Midlife-Crisis noch genauso sieht. Und selbst wenn er käme, wie sollte er mir helfen können? Mich an seiner Schulter auszuweinen, würde mich womöglich noch mehr deprimieren, falls das überhaupt noch geht.«
»In seiner zweiten Laufbahn als Rechtsmediziner hat Jack viel Erfahrung mit Gerichtsverhandlungen gesammelt. Er reist als Sachverständiger für das New Yorker rechtsmedizinische Institut durch die Gegend, und er hat mir erzählt, dass es ihm Spaß macht. Ich halte ihn für sehr einfallsreich, auch wenn er es nicht lassen kann, immer wieder unnötige Risiken einzugehen. Wenn du so unglücklich mit dem Verlauf der Dinge bist, könnten sich seine spontanen Ideen vielleicht als hilfreich erweisen.«
»Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen wie.«
»Ich mir auch nicht, und wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum ich es nicht schon früher vorgeschlagen habe.«
»Er ist dein Bruder. Diese Entscheidung überlasse ich dir.«
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Alexis. Dann warf sie einen Blick auf ihre Uhr. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. Bist du sicher, dass du nicht doch noch kurz etwas essen möchtest?«
»Ach, jetzt wo ich endlich aus diesem Gerichtssaal raus bin, fängt mein Magen doch an zu knurren. Ich könnte ein Sandwich vertragen.«
Nachdem sie aufgestanden waren, umarmte Craig seine Frau und hielt sie eine Weile fest. Er war ihr sehr dankbar für ihre Unterstützung und schämte sich noch mehr für sein Verhalten in der letzten Zeit. Sie hatte recht, was seine Fähigkeit betraf, sich nur auf eines zu konzentrieren und alles andere auszublenden. Er hatte seinen Beruf und sein Privatleben strikt voneinander getrennt und dabei dem Beruf viel zu viel Bedeutung beigemessen. Er betete, dass er eines Tages die Gelegenheit bekommen würde, beides auszugleichen.
Kapitel 4
Boston, Massachusetts
Montag, 5. Juni 2006
13.30 Uhr
B itte erheben Sie sich«, rief der Gerichtsdiener.
Genau in dem Augenblick, als der Sekundenzeiger der Wanduhr im Gerichtssaal über die Zwölf glitt, fegte Richter Marvin Davidson mit wirbelnder schwarzer Robe aus seinem Richterzimmer.
Die Sonne hatte sich auf ihrer Bahn weiterbewegt, und einige der Rollos vor den bis an die Decke reichenden Fenstern über der zwei Meter hohen Eichentäfelung waren hochgezogen worden. Neben einem kleinen Ausschnitt aus dem Stadtpanorama war ein winziger Fleck blauen Himmels zu sehen.
»Nehmen Sie Platz«, rief der Gerichtsdiener, nachdem der Richter sich hingesetzt hatte.
»Ich gehe davon aus, dass Sie sich alle gestärkt haben«, sagte der Richter, an die Geschworenen gewandt. Die meisten von ihnen nickten.
»Und nachdem ich Sie vorhin belehrt habe, gehe ich ebenfalls davon aus, dass niemand von Ihnen in irgendeiner Form über den Fall gesprochen hat.« Einhellig schüttelten die Geschworenen den Kopf.
»Gut. Jetzt werden Sie das Eröffnungsplädoyer des Anwalts des Beklagten hören. Mr Bingham.«
Bedächtig stand Randolph auf, trat ans Rednerpult und legte seine Notizen ab. Dann rückte er sein dunkelblaues
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