Monuments Men
zurückgelassen. Die amerikanische Einheit, die Neuschwanstein eingenommen hatte, hatte von keinerlei Widerstand berichtet, und insgesamt wurden in der Schlossanlage nur ein paar Gewehre entdeckt. Dank der Angaben von Rose Valland und Rorimers Bemühungen waren die Soldaten über die Bedeutung des Schlosses informiert und hatten es unmittelbar nach der Besetzung abgesperrt. Kein Soldat, ungeachtet welchen Ranges, hatte bislang die Schatzkammer betreten.
Mit dem langjährigen Verwalter des Schlosses als Führer – die Nationalsozialisten hatten die Schlossbediensteten aus der Vorkriegszeit übernommen, denn sie vertrauten diesen Leuten mehr als ihren eigenen Männern – betraten James Rorimer, dessen neuer Assistent, Monuments Man John Skilton, und eine kleine Wachmannschaft die Anlage. Im Inneren des Hauptgebäudes gab es ein Labyrinth von Treppen, die nicht von einem Architekten, sondern einem Bühnenbildner entworfen worden waren, den Ludwig besonders geschätzt hatte. Die Treppen waren steil und gefährlich, und an ihrem oberen Ende befand sich jeweils eine Tür, die von einem deutschen Wächter mit einem komisch wirkenden großen Schlüssel aufgeschlossen und hinter ihnen wieder abgesperrt wurde. Hinter den meisten Türen lagen bedrückend wirkende Räume mit zentimeterdicken Mauern und winzigen Ausguckfenstern. Andere führten zu prunkvollen Korridoren, bisweilen auch zu einem Balkon, von dem aus man einen weiten Blick in die Berge hatte, gefolgt von weiteren engen Treppenhäusern, diesmal an der Außenmauer des Schlosses. Das Schloss wuchs in schier unglaublichen Dimensionen nach oben, ein atemberaubender Raum folgte auf den anderen, und in jedem sah Rorimer Kartons und Kisten, Regale und Podeste, die Kulturschätze Frankreichs enthielten, die direkt von Paris hierher geschafft worden waren. In einigen Räumen gab es nur Goldschmuck; in anderen waren Gemälde in Regalen aneinandergereiht oder dicht aufeinandergestapelt in Kisten, auf denen die Symbole der ursprünglichen Pariser Sammler mit den Initialen des ERR überschrieben worden waren. Rorimer bemerkte, dass viele der Kisten noch nie geöffnet worden waren.
Andere Bereiche des Schlosses waren vollgestopft mit Möbeln. Einige Räume enthielten Tapisserien, andere Tafelservices, Kelche, Kerzenleuchter und Haushaltsgüter unterschiedlichster Art. Es gab mehrere Räume mit Büchern, zwischen denen seltene Stiche und Drucke willkürlich aufgeschichtet worden oder hinter Regalen hinabgerutscht waren. Hinter einer Stahltür, die durch zwei Schlösser gesichert war, befanden sich die weltberühmte Rothschildsche Juwelensammlung und mehr als tausend silberne Objekte, die Pierre David-Weill gehörten. »Ich ging wie in Trance durch die Räume«, schrieb Rorimer, »und hoffte, dass die Deutschen ihrem Ruf gerecht geworden waren und Fotografien, Verzeichnisse und Aufzeichnungen von all diesen Dingen angefertigt hatten. Ohne sie würde es zwanzig Jahre dauern, alle Stücke in dieser riesigen Ansammlung von Beutegut zu identifizieren.« 271
In der Kemenate, dem Kaminraum des Schlosses, zu der eine separate Tür führte, hatten die Nazis Uniformen und Dokumente verbrannt. Rorimer sah Hitlers Unterschrift, die auf der eingerollten Ecke eines verbrannten Stück Papiers noch sichtbar war, und fürchtete schon, dass die Archive zerstört worden sein könnten. Doch der nächste Raum war voll mit Ablageschränken, die Fotos, Kataloge und Aufzeichnungen enthielten. Es gab ein Verzeichnis sämtlicher Konfiskationen, die der ERR in Frankreich durchgeführt hatte – insgesamt waren mehr als 21 000 Objekte beschlagnahmt worden, verzeichnet waren auch welche, die an andere Unterbringungsorte gegangen waren. Somit gab es Unterlagen über einen Großteil der von den Nazis in Westeuropa geraubten Kunstgüter; Rose Valland hatte Rorimer darauf hingewiesen dass es entscheidend wichtig war, die Objekte zu identifizieren um sie ihren Eigentümern zurückgeben zu können.
»Niemand darf hier herein«, sagte Rorimer zum Sergeant der Wachmannschaft, die ihnen bei der Besichtigung folgte. »Nicht einmal Wächter. In dieses Gebäude ist der Zutritt verboten.«
Im Boden gab es eine Falltür. Rorimer ließ sie zunageln, dann wurde ein Stahlschrank darübergeschoben. Die schweren Türen der Kemenate wurden zugezogen und abgesperrt. Dann griff Rorimer in Schauspielermanier nach einem alten Rothschild-Siegel, das er unter dem Beutegut entdeckt hatte – SEMPER FIDELIS (»Immer treu«) stand
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