Moonshine - Stadt der Dunkelheit
sich war mehr als nur ein bisschen unangemessen, doch er ließ sich Zeit, öffnete meine Lippen und berührte meine Zunge, als könnte er mein Innerstes in sich aufnehmen. Ich schmiegte mich enger an ihn, bis jeder Knopf seiner Weste einen Abdruck auf meinem Oberkörper hinterlassen hatte. Wie aus weiter Ferne johlte jemand, und Amir löste sich unvermittelt von mir. Ich packte die Rückenlehne meines Stuhls, um nicht hinzufallen.
»Pass auf dich auf, Zephyr«, sagte er mit rauher Stimme.
Dann war er verschwunden. Auf die herkömmliche Weise, durch die Tür. Der eisige Windhauch weckte mich, und ich spürte wieder das Pochen meiner Wunden.
»Möchten Sie noch etwas, Miss?«, fragte die Kellnerin, die zwischen Aufregung und Erschütterung hin- und hergerissen war.
Ich schüttelte den Kopf und fuhr mir über meine mit einem Mal feuchten Augen. »Nein«, sagte ich.
Nichts, was Sie mir geben könnten.
Drei Stunden später verließ ich die Chrystie-Elementary-Schule. Mir tat alles weh und ich fragte mich, wie ich die High-Society-Party mit Lily überstehen sollte. Unvermittelt tauchte das Bild von Eliza Doolittle auf dem Ball der Herzogin vor meinem inneren Auge auf: »Wie freundlich von Ihnen, dass ich kommen durfte.« Tja, offenbar stand ganz oben auf der Tagesordnung, mein Mundwerk aus Montana hübsch geschlossen zu halten. Oder gefüllt mit Essen.
»Miss Hollis?« Ich erkannte die Stimme, aber mein erschöpftes Gehirn brauchte einen Moment, um sie mit einem Namen und einem Gesicht in Verbindung zu bringen. Als mir das gelang, war ich überrascht. Giuseppe war mir in der letzten Zeit immer energisch, fast schon bedrohlich gegenübergetreten, wenn wir uns begegnet waren. Jetzt wirkte er im flackernden Licht einer elektrischen Straßenlaterne weiß wie Pergamentpapier und äußerst zerknirscht.
»Was gibt es?«, fragte ich argwöhnisch.
Er sah wirklich fürchterlich aus, doch ich erinnerte mich an sein merkwürdiges Auftreten im Kurs vom Vorabend. Vielleicht war er ja auch nur um meine Sicherheit besorgt gewesen, trotzdem wunderte ich mich.
»Ich wollte mich für mein Verhalten gestern entschuldigen. Es war … unverzeihlich.
Mea culpa.
Sie waren so großzügig zu mir und ich …« Er schüttelte den Kopf und senkte den Blick, als wollte er jeden Moment in Tränen ausbrechen.
Seine Lippen waren so bleich, dass sie sich kaum von seiner blassen Haut abhoben. Wenn Nicholas heute Nachmittag ein Vampir bei bester Gesundheit gewesen war, so war Giuseppe das Bild eines Blutsaugers an der Schwelle des Todes. Die traurige Geschichte zwischen Giuseppe, Nicholas und Rinaldo deutlich vor Augen, biss ich die Zähne zusammen, als ich daran dachte, wie ungerecht das alles war. Ein Vampir, der verhungert, blutet nicht aus. Er fällt einfach, wie ein Ballon, aus dem man die Luft gelassen hat, und sinkt zur Erde.
»Giuseppe, ich verstehe, unter welchem Druck Sie stehen, aber … bitte, wenn Sie Hilfe brauchen, wenden Sie sich an die Blutbank am St. Marks Place und sagen Sie Ysabel, dass ich Sie geschickt habe.«
Wieder schüttelte er den Kopf, doch ich konnte sehen, dass ich ihn mit meinem Angebot verletzt hatte. »Danke, Miss Hollis, mir geht es gut. Ich habe meine eigenen Quellen. Es ist nur …« Er verstummte, als würde er nach Worten suchen. »Mein Sohn. Mein Jüngster. Er ist krank, sehr krank, seit letzter Woche. Die Ärzte sind sich nicht sicher …«
»Was ist passiert?«
Giuseppe schluckte. »Kinderlähmung. Er muss in ein Krankenhaus, aber …«
Bevor er den Satz beendet hatte, griff ich bereits in meine Tasche, zog das Geld heraus, das noch von Amirs Zahlung übrig war, und streckte es ihm hin. »Bitte, nehmen Sie es. Das sollte wenigstens reichen, um Ihren Sohn in einem Krankenhaus untersuchen zu lassen. Wenn es noch irgendetwas gibt, das ich für Sie tun kann …«
»Miss Hollis, das kann ich nicht annehmen.« Hin- und hergerissen betrachtete er die Scheine.
Ich legte meine Hand auf seinen Ellbogen. »Bitte. Sie können es mir zurückzahlen, wenn dieser ganze Ärger vorüber ist.«
»Sie sind ein Engel, Miss Hollis«, entgegnete er, drückte meine Hand und lief dann in die entgegengesetzte Richtung davon. Stirnrunzelnd blickte ich ihm hinterher, als er ging. Der Mann schien auf Schritt und Tritt von seiner persönlichen Gewitterwolke verfolgt zu werden.
Meine Taschen waren leer, als ich nach Hause schlenderte. Eine Situation, die mir nur allzu vertraut war.
Die Party war genauso protzig,
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