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Moonshine - Stadt der Dunkelheit

Moonshine - Stadt der Dunkelheit

Titel: Moonshine - Stadt der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alaya Johnson
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alles verriet mir nichts über Rinaldo. Ich machte den Deckel wieder zu und nahm mir die zweite Kiste vor.
    »Verschwinde hier!«, schrie Nicholas gerade. »Du bist nur eine Hure. Hau ab,
puttana

    Kathryn stieß ein Heulen aus, bei dem mir ein Schauer über den Rücken lief. Mein Gott, war ihr etwas zugestoßen? Warum war Nicholas so grausam zu ihr? War es möglicherweise ein Streit zwischen zwei Liebenden? »Bitte, bitte«, flehte sie, und ihre Stimme klang so unterwürfig, dass ich weghören musste. Mir blieb nicht mehr viel Zeit, und ich konnte es mir nicht leisten, auf die Szene zu achten, die sich in der Bar abspielte.
    In der zweiten Kiste fand ich noch seltsamere Papiere. Alte Karten von Manhattan, einige aus den 1890 er Jahren, mit bestimmten Straßen und Gebäuden, die mit rätselhaften Zeichen versehen waren. Während ich durch die Unterlagen blätterte, begann ich allmählich, ein Muster zu erkennen: Die Gebiete mit den meisten Markierungen schienen ein Areal zu kennzeichnen, in dem Rinaldo auch in letzter Zeit noch hauptsächlich tätig war. Ich entdeckte sogar eine Markierung, die für das
Beast’s Rum
stand. Das mussten alte Pläne von Rinaldos kriminellen Operationen sein, vielleicht sogar Ablaufpläne, Übergabepunkte und Schmuggelrouten. Wenn ich Glück hatte, fand ich sogar einen Verweis auf einen geheimen Palast, angemessen für einen Vampir.
    Eine Tür fiel ins Schloss. Kathryn musste gegangen sein.
    »Bruno!«, rief Nicholas, und seine Stimme kam näher, »hol mir ein Glas. Rinaldo hat vielleicht einen Frauengeschmack, was?«
    Rinaldos
Geschmack! Scheiße. Nicholas würde gleich wiederkommen. Was tun? Hektisch griff ich mir eine Handvoll der Seiten – genug, um einige Hinweise herauszubekommen, aber nicht so viele, dass ihr Fehlen bei einem flüchtigen Blick in die Kiste aufgefallen wäre – und rannte zurück zum Tisch. Ich hatte sie gerade in meine Tasche gestopft und mich hingesetzt, als Nicholas hereingestürzt kam. Ich konnte sehen, wie wütend er war, doch es steckte noch mehr hinter dieser Wut. Ich wusste, dass ich besser nicht fragte. Also hatte Rinaldo eine Geliebte. Das war schon mal etwas. Und wenn diese Frau irgendetwas mit den grauenvollen Dingen zu tun hatte, die Rinaldo an Nicholas verübt hatte, als er dreizehn gewesen war, konnte ich seine Feindseligkeit verstehen.
    »Komm schon«, knurrte er, als hätte ich die Unterrichtsstunde aufgehalten. »Ich werde das hier lernen. Er wird schon sehen.«
    Er behielt mich bis nach Sonnenuntergang da und erklärte die Lektion erst für beendet, als ich vor Erschöpfung gähnte. Ich wusste nicht, was passiert war, dass er mit einem Mal so getrieben war. Nach den Einblicken, die ich bereits in Nicholas’ gequälte Seele bekommen hatte, war ich mir allerdings auch nicht sicher, ob ich es wissen wollte.
     
    Montag war der Abend, an dem ich den meisten Unterricht geben musste. Ich hatte drei Veranstaltungen in Folge – unter anderem »Moderne Etikette«, der Kurs, den ich am wenigsten mochte und der am besten besucht war. Wenn ich nicht in Ohnmacht fallen wollte, während ich zeigte, wie man Tee trank und Beileidskarten schrieb, brauchte ich etwas zu essen. In der Baxter Street gab es einen günstigen Coffeeshop, in dem ich mir eventuell etwas leisten konnte. Das Geld für die Droschke, das ich von Lily bekommen hatte, war längst ausgegeben, doch Amirs Bezahlung würde auf jeden Fall für einen Schluck von dem braunen, belebenden italienischen Getränk und Gebäck reichen.
    Auf den Straßen waren weniger Leute unterwegs als normalerweise, und sie alle bewegten sich, als könnten sie es kaum ertragen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Wir befanden uns im Epizentrum der
Faust-
Epidemie, und nach drei Tagen schien es so, als hätte sich die Angst in Verzweiflung verwandelt. Ein scharfer Windstoß wehte mir eisigen Schnee von der Markise einer Bäckerei ins Gesicht. Erschrocken zuckte ich zusammen und stolperte weiter. Ich blinzelte noch immer den Schnee aus meinen Augen, als mich irgendetwas hart von hinten gegen das Schaufenster der Bäckerei drückte. Ich stöhnte vor Schmerz auf, als jede einzelne Wunde vom Morgen wieder schmerzhaft zum Leben erwachte.
    »Was zum Teufel soll das?«, sagte ich und war zu müde und verwirrt, um auch nur daran zu denken, mein Messer hervorzuholen.
    Als ich einen Blick über die Schulter warf, erblickte ich eine hochgewachsene Gestalt, die ihr Gesicht unter der Kapuze eines langen Mantels versteckte.

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