Moonshine - Stadt der Dunkelheit
legen, aber angesichts seiner Kraft reichte es vollkommen aus. Ich würgte und fragte mich, ob nun vielleicht ein guter Zeitpunkt wäre, das Messer unter meinem Rock hervorzuholen. Sein Gesicht verzerrte sich zu einem gänzlich unmenschlichen Ausdruck. In seinen Augen pulsierte das Licht, allerdings zu ziellos, um mich in seinen Bann zu schlagen, selbst wenn ich nicht immun gewesen wäre.
»Was bist du? Für wen arbeitest du?« Sein Mund war nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt.
Ich rang nach Atem. »Ich bin nicht … Du weißt, wer ich bin. Ich arbeite nur … nur für dich.«
Bitte, glaub mir, bitte, glaub mir
.
Seine Hand drohte inzwischen, mir die Luftröhre zu zerquetschen, und mir wurde schwindelig. »Du hast mich verfolgt. Warum, Charity? Du solltest mir jetzt besser die Wahrheit erzählen, denn hier kann dir keiner helfen.«
Ich schloss die Augen. »Kann nicht … atmen«, krächzte ich. Eine qualvolle Sekunde verstrich, ehe er abrupt seinen Griff lockerte. Ich fiel auf die Knie und sog gierig Luft durch meinen brennenden Hals. »Okay …«, keuchte ich. Ich würde ein echtes Problem bekommen, wenn das jetzt nicht funktionierte, denn Nicholas hatte absolut recht: Hilfe war in weiter Ferne, wenn ich ihn falsch eingeschätzt hatte. Ich blickte ihm in die Augen, die wieder ruhiger zu sein schienen. Oh, ich wusste, dass er verrückt war, dennoch musste ich mich jetzt auf seine Vernunft verlassen.
»Ich will Rinaldo finden. Ich will ihn töten, und du bist die einzige Person, die weiß, wo er steckt.«
Er zuckte zusammen, als hätte ich ihn geschlagen, aber seine Miene blieb seltsam unergründlich. Er starrte auf die Wand über mir, und seine Lippen bewegten sich, doch es kam kein Laut hervor. Ich fragte mich schon, ob ausgerechnet meine Enthüllung ihn vollkommen um den Verstand gebracht hatte, da schien er eine Entscheidung getroffen zu haben. All die angespannte Gewalt, die ihn in den letzten Minuten im Griff gehabt hatte, war mit einem Mal verschwunden. Ich wurde lockerer.
»Ich kann dir nicht helfen«, sagte er. Seine Stimme klang ruhig und leise. »Das schulde ich meinem Papa. Doch ich werde dich auch nicht aufhalten, wenn du glaubst, dass du es schaffen kannst. Ich denke nicht, dass du es kannst. Wahrscheinlich wirst du sterben.« Er legte den Kopf schräg und lachte leise. »Weißt du, was mich traurig macht? Ich will nicht, dass Charity Gutmensch stirbt.«
Ich hustete, und aus meinem Husten wurde unerklärlicherweise ein Lachen. »Damit wären wir schon zu zweit.«
Nicholas führte mich aus dem Tunnelsystem und achtete darauf, dass ich sicher wieder über der Erde war, bevor er verschwand. Selbst wenn ich dumm genug gewesen wäre, es noch einmal zu versuchen, hätte ich ihm nicht folgen können. Ich ertappte mich dabei, wie ich offensichtlich vor Entsetzen zitterte, doch es war angenehmer, das Zittern auf die Kälte zu schieben. Ich hatte einfach nicht die Zeit, um bei jeder kleinen Bedrohung gleich durchzudrehen. Mein Hals war schließlich nur ein bisschen gequetscht – eine weitere Verletzung in meiner Sammlung. Ich musste mich dringend mit Amir treffen und ihm von der Party am Abend zuvor sowie von Rinaldos Testament erzählen. Aber da ich ganz in der Nähe der U-Bahnstation war, entschloss ich mich, zuerst meinem streng riechenden Informanten einen Besuch abzustatten. Vielleicht wusste er etwas Neues über Judahs Mutter.
Ich holte mein Fahrrad, das ich an einem Laternenpfahl auf der gegenüberliegenden Straßenseite von der Baustelle angekettet hatte, und machte mich auf den beschwerlichen Weg zur Whitehall Street. Ich hatte mich entschieden, heute Morgen das Rad zu nehmen, da ich das letzte Geld, das ich von Amir bekommen hatte, Giuseppe gegeben hatte und meine Wunden ein klitzekleines bisschen weniger schmerzhaft zu sein schienen. Als ich die Whitehall Street erreichte, hatte ich mein Vorhaben aufgegeben, mich auf dem Fahrrad durch den Verkehr zu schlängeln. Wenn der Boden nicht so vereist und ich nicht so verletzt gewesen wäre, hätte es durchaus Spaß machen können, doch im Augenblick konnte ich nur sehnsüchtig an mein Bett denken. Oder vielleicht an etwas, das weniger verschlissen war. Wie Amirs Bett. Und wärmer. Wie …
Ich schüttelte energisch den Kopf und lief die Stufen zur U-Bahnstation hinunter. Der Bahnsteig war nicht annähernd so überfüllt wie die Straßen, der morgendliche Ansturm war seit einigen Stunden vorbei. Daher war ich überrascht, als ich
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