Moonshine - Stadt der Dunkelheit
Monster – das durfte ich nicht vergessen, sonst würde ich nicht damit leben können, was Daddy und Troy ihm antun wollten –, aber tief in seinem Innern war er immer noch ein dreizehnjähriger Junge, eingesperrt in einen dunklen Raum, während Vampirgift seinen Verstand zerstörte. Ich wandte den Blick von seinem unglücklichen, offenen Gesicht wieder auf den Brief. Einige Abschnitte lang erklärte Rinaldo im Detail, welche Straßen und Kontakte an welche der Mitglieder seiner Bande gehen sollten. Schließlich stellte ich fest, dass Nicholas’ Name am Ende der Seite doch noch Erwähnung fand.
»Meinem Sohn Nicholas«, las ich vor, »vermache ich meine Musiksammlung, bestehend aus Aufnahmen, Abspielgeräten und Musikinstrumenten. Er kann außerdem, falls er sich dazu entschließen sollte, die Leitung seines Bereichs meines Geschäfts behalten, obwohl ich ihn dazu ermutige, seine Talente anderweitig zu verfolgen.«
Ich hielt den Blick gesenkt. »Das war’s«, sagte ich. »Der Rest ist Juristenjargon. Nicholas … wie bist du an dieses Schreiben gekommen?«
Er trat so dicht an mich heran, dass ich das abgewetzte Leder seiner teuren Schuhe sehen konnte, und noch immer wagte ich es nicht, aufzublicken. »Ein Anwalt ist vorbeigekommen und hat mich aufgesucht, nachdem Dore zum Platzen gebracht worden ist. Er hat gesagt, dass Papa sein Testament ändern musste, also habe ich ihn mit einem Blick in meine Gewalt gebracht und das Schreiben an mich genommen. Ich wollte sehen, wie sehr der alte
bastardo
mich trotz allem liebt … Ich verschwinde jetzt«, sagte er und nahm mir das Papier aus den klammen Fingern. »Geh zurück und kümmere dich um deine Wohlfahrtsorganisationen, Zephyr Hollis.«
Ich saß noch mindestens eine Minute in der verlassenen Höhle, nachdem er gegangen war. Würde Daddy ihn wirklich umbringen? Diesen Jungen, dessen Vater sich lediglich dazu herabließ, ihm in seinem Testament ein paar Notenblätter zu hinterlassen? Ich stand auf und erstarrte, als plötzlich ein paar abgehackte Schreie tief im Tunnelsystem erklangen. Eine Ratte?
»Bastardo! Puttana!«
Eine italienische Ratte. Er hatte mir doch gesagt, er würde gehen.
Vielleicht wollte er aber auch seinen Vater aufsuchen.
Beflügelt von dieser neuen Idee, schnappte ich mir die Lampe, die er mir dagelassen hatte, und drehte sie herunter, bis sie kaum mehr als ein schwaches Glimmen in der Dunkelheit war. Ich schlich zum Ausgang der Höhle und blickte erst links und dann rechts den Tunnel hinab. Als Vampir brauchte Nicholas kein Licht, um sich in der Finsternis zurechtzufinden. Die Geräusche schienen von links zu kommen. Ich schlich weiter und versteckte die Lampe unter meinem Mantel. In ungefähr fünf Metern Entfernung konnte ich seine bleiche Gestalt als sich langsam vorwärts bewegende Silhouette im Dunkel erkennen. Er wollte definitiv tiefer in den Tunnel hinein.
Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass die New Yorker ihre Stadt aufgrund des menschlichen Bedürfnisses nach Beförderung mit einer derart umfassenden Wabenkonstruktion unterhöhlt hatten. Was für eine Verschwendung, sie einfach so aufzugeben. Nicholas bog, ohne zu zögern, an einigen Gabelungen im Tunnelsystem ab: links, rechts, rechts. Ich wiederholte die Abfolge stumm, damit ich den Rückweg finden würde, denn ich verspürte nicht gerade den dringenden Wunsch, ein paar Meter unterhalb der Stadt zu verhungern. Auf einmal wandte sich Nicholas abrupt nach rechts. Ich wartete und atmete einige Sekunden lang flach und leise, ehe ich ebenfalls um die Ecke bog. Auf diese Weise würde ihn das fahle Licht meiner Lampe nicht auf meine Spur bringen.
Er war nicht zu sehen. Ich rannte ein Stück weiter – war er etwa wieder abgebogen? Leider hörte ich weder in dem einen noch in dem anderen Tunnel an der Gabelung vor mir irgendein Geräusch. Sogar mit der übernatürlichen Geschwindigkeit eines Vampirs konnte er unmöglich so plötzlich und spurlos verschwunden sein. Ich fluchte leise und wagte es, die Lampe ein bisschen heller zu drehen. Der Tunnel war leer. Ich drehte mich langsam im Kreis. Ich war vollkommen allein.
Mit einem Mal vernahm ich ein Schlurfen hinter mir. Mir blieb nicht einmal Zeit aufzuschreien, als Nicholas mich auch schon gegen die Wand drückte. Mein Atem wurde mit einem dramatischen Zischen aus mir herausgepresst, und ich kämpfte mit hochrotem Gesicht darum, Luft in meine Lunge zu saugen. Nicholas’ Hände waren kaum groß genug, um sich um meinen Hals zu
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