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Moonshine - Stadt der Dunkelheit

Moonshine - Stadt der Dunkelheit

Titel: Moonshine - Stadt der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alaya Johnson
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zog ich mich höflich zurück und beschloss, die vierzig Minuten zu nutzen, die mir noch bis zur Mahnwache blieben. Wie eine Wahnsinnige radelte ich in die Canal Street und schob mein Fahrrad dann über Dreck und Berge von Schutt auf die Baustelle. Die Arbeiter wollten gerade Mittagspause machen. Ein Blick genügte, um festzustellen, dass keiner der Männer, die am helllichten Tag auf den Winden oder auf dem Boden saßen, ein Vampir war. Nein, die Blutsauger waren noch immer tief in dem Tunnel, die Sonne trennte sie von diesen normalen, sterblichen Männern.
    Je jünger der Vampir, also je kürzer seine Wandlung her ist, desto weniger anfällig ist er für Sonnenlicht, das einen Vampir für gewöhnlich verbrennt. Dennoch ist Sonnenlicht für keinen Vampir angenehm, und der unnatürliche Kontrast zwischen der Blässe ihrer Haut und dem Rot, wenn sie gerade ihren Hunger gestillt haben, ist bei Tageslicht noch auffälliger.
    Die Arbeiter verstummten, als ich an ihnen vorbeiging. Verlegen zog ich meinen Cloche-Hut tiefer ins Gesicht, so dass er meine Augen verdeckte.
    »Eine Baustelle wie diese«, hörte ich meine Mutter sagen, »ist nicht der Ort, an dem sich eine anständige junge Frau aufhalten sollte.«
    Ich bangte ganz bestimmt nicht um meine Sicherheit und auch nicht um die viktorianischen Moralvorstellungen meiner Mutter, aber angesichts des Schweigens und der bohrenden Blicke wünschte ich mir, ich wäre nicht aus einer Laune heraus hierhergekommen. Hätte ich nicht bis heute Abend warten können, wenn er zu Hause war? Die Männer pfiffen mir nicht einmal hinterher, was mich dankbar stimmte
und
zugleich sehr verärgerte. Groß und mager mit winzigen Brüsten – auf einer von F. Scott Fitzgeralds legendären, glamourösen Partys auf Long Island mochte das schick sein, hier dagegen fühlte ich mich wie ein schlaksiger Teenager.
    Ich biss die Zähne zusammen und rief mir mahnend in Erinnerung, wie wenig Zeit mir für diesen Gang blieb.
    »Ist Giuseppe heute da?«, fragte ich den nächstbesten Bauarbeiter zu meiner Rechten, einen dunkelhäutigen Mann mit Bartstoppeln und einem runden Filzhut, der schräg auf seinem Kopf thronte.
    »Was will ein Mädchen wie Sie von einem Blutsauger?«, fragte er mit breitem Akzent. Der Mann schien aus dem Süden zu stammen. »Sie sind ein so dürres, kleines Mädchen, dass Sie für ihn wohl kaum ein attraktiver Snack zum Vernaschen sind.«
    Offenbar hielten er und seine Kumpels den Spruch für ausgesprochen geistreich, denn sie fielen vor Lachen praktisch von ihren Sitzen. Ich wollte gerade aufgeben und jemand anders fragen, als er sich endlich wieder beruhigte.
    »Hey, Giuseppe!«, schrie er in die ungefähre Richtung des Tunneleingangs, der mit einem Gerüst versehen war. »Hier ist ein Blutbeutel, der dich sehen will.«
    Blinzelnd starrte ich in den Schatten des Tunneleingangs und konnte nur die undeutlichen Umrisse einer großen Gestalt ausmachen, die dort aufgetaucht war. Ich dankte dem Bauarbeiter und machte mich über die ziemlich steil abfallende Böschung auf den Weg zum Tunnel.
    Einer der Männer hinter mir sagte in einem mir unbekannten Dialekt einen Satz, in dem unter anderem das Wort »Dessert« vorkam. Das Lachen seiner Kumpel wirkte wie ein Schwall eiskalten Wassers auf meinen Rücken, als ich nun auf Giuseppe zueilte.
    In dem Moment, als ich unter dem vereisten Gerüst aus Holz hindurchging, wurde mir klar, was für einen Fehler ich begangen hatte. Giuseppe stand etwas verdeckt in den Schatten, so dass ich sein Gesicht kaum sehen konnte. Doch ich vermochte an dem ängstlichen und wütenden Ausdruck in seinen unnatürlich hellen Augen zu erkennen, dass ich nicht eben ein willkommener Gast war. Er war misstrauisch, weil er sich wahrscheinlich nicht vorstellen konnte, warum ich ihn ausgerechnet hier aufsuchen sollte. Und wenn er es erst erfuhr?
Oh, verflucht. Ich bin so eine Idiotin.
    »Miss Hollis? Ist irgendetwas passiert? Wenn es um das Geld geht …« Er blickte sich um und senkte die Stimme. Mit der rechten Hand nestelte er an etwas in seiner Hosentasche, während er mit der linken die Krempe seiner Mütze zurechtzog. Ich konnte seine Nervosität spüren – und das, obwohl ich ebenso sehr eine Empathin bin wie mein Fahrrad. »Ich werde es Ihnen zurückzahlen, das schwöre ich, aber …«
    Schnell schüttelte ich den Kopf und zwang mich dazu, nicht zurückzuweichen. Ich hätte mich im Tageslicht so viel sicherer gefühlt als hier. »Nein, nein, darum geht es

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