Moonshine - Stadt der Dunkelheit
erwiderte ich gähnend.
»Sie ist eine schrille viktorianische Wichtigtuerin, das ist sie.«
»Egal. Wir versuchen bloß, den Menschen zu helfen. Dieses Zeug ist gefährlich.«
»
Faust
zu verbieten wäre genauso effektiv und schlau wie die Prohibition, da bin ich mir sicher.«
Ich seufzte. »Tja, aber wir müssen etwas unternehmen.«
»Das ist meine Zephyr.«
Ich sehnte mich danach, wieder schlafen zu gehen, doch in meinem Kopf schwirrten bereits tausend Gedanken an Dinge, die ich heute noch erledigen musste. Mein erster Tagesordnungspunkt war es, Judah zu helfen, seine Familie zu finden. Ich konnte mir vorstellen, wie seine Eltern reagierten, wenn sie erfuhren, dass ihr Sohn sich in einen Vampir gewandelt hatte, aber das war immer noch besser als gepfählt und enthauptet. Danach würde ich weitere Anstrengungen unternehmen, um Rinaldo aufzuspüren. Wenn wir Bürgermeister Jimmy Walker nicht dazu bringen konnten, uns zuzuhören (wovon ich ausging), war es sicher das Beste, dieses
Faust
-Problem bis zu seiner Quelle zu verfolgen. Ich hob die Arme über den Kopf und reckte mich.
»Verdammt noch mal, was ist mit deinem Arm passiert?«
Der Ärmel meines Nachthemdes war heruntergerutscht. Schnell versuchte ich, den Arm wieder zu bedecken, aber Aileen musterte mich bereits entsetzt. Ich erinnerte mich daran, wie panisch sie in der vergangenen Nacht gewesen war, und verfluchte mich stumm.
»Das ist nichts. Die Katze hat mich gestern ein bisschen gekratzt, das ist alles.«
»Hatte sie Tollwut? Die Kratzer sehen echt tief aus, Zeph.«
Ich schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Sorgen. Das ist passiert, als ich sie nach draußen tragen wollte.«
»Ich habe nicht gehört, wie du die Treppe hinuntergegangen bist.«
»Ich kann ganz leise sein, wenn ich will.« Aileen starrte mich nur an, als wüsste sie, dass ich log. »Egal, ich muss jetzt los«, stieß ich hastig hervor.
Ich rannte praktisch aus dem Zimmer, um ein Bad zu nehmen. Als ich zurückkam, lag Aileen auf ihrem Bett. Ihre Augen waren offen, doch sie sagte keinen Ton, als ich mich von ihr verabschiedete. Was seltsam war, denn für gewöhnlich ignorierte Aileen mich nicht. Auch nicht, wenn sie wütend auf mich war.
Während ich den Rest der kalten Suppe aß, die auf der Herdplatte stand (zusammen mit allen sechs mit Schokolade überzogenen Erdbeeren, die Mama mir geschenkt hatte), fragte ich mich, ob Aileen mit ihren seherischen Fähigkeiten vielleicht doch recht hatte. Es war schließlich nicht unmöglich, dass sich die Gabe erst mit über zwanzig zeigte. Vielleicht hatte der Bann des alten Vampirs es ausgelöst. Mit der Katze hatte sie immerhin richtiggelegen, oder? Sie hatte gewusst, dass sich irgendetwas
Andersartiges
draußen vor der Tür aufgehalten hatte. Ich erschauderte. Ich mochte gar nicht darüber nachdenken, wie schwierig Aileens Leben von nun an sein würde, wenn sie tatsächlich eine Seherin wäre. Es gab einen Grund, warum die Wahrsager, die auf der Straße ihre Dienste anboten, dieses fieberhaft zerstreute Auftreten kultiviert hatten: Echte Seher wurden von ihren Visionen eigentlich immer gequält und manchmal sogar in den Wahnsinn getrieben.
Kein Wunder, dass Aileen in Panik war. Ich musste ihr dringend helfen. Aber erst,
nachdem
die Schwierigkeiten mit Amir und Rinaldo aus der Welt geschafft waren.
Ich hatte beschlossen, meine Suche nach Judahs Eltern in der Lafayette Street zu beginnen, in der Hoffnung, dass wenigstens jemand in den umliegenden Häusern irgendetwas gesehen hatte. Wenn das nicht funktionierte, würde ich zum
South-Ferry-
Anleger gehen. Das schien mir der wahrscheinlichste Ort in der Nähe zu sein, an dem ein Junge mit seiner Mutter zusammen das Nebelhorn eines Schiffes hören konnte.
Das Mietshaus, das der Stelle, an der ich Judah gefunden hatte, am nächsten war, befand sich in der Leonard Street, die von der Benson Street abging. Es sah aus wie jedes andere durchschnittliche Gebäude, in dem Einwanderer untergebracht waren – ein achtgeschossiges Haus aus zerbröckelndem rotem Ziegelstein und verrußtem Kalkstein ohne Fahrstuhl. Der Hausbesitzer hatte offensichtlich angefangen, Feuerleitern anzubringen. Allerdings war sein Interesse ungefähr im fünften Stock erloschen, und das vor sich hin rostende Stahlgestänge hing verloren über dem unglaublich tiefen Abgrund.
Ich zog den Mantel enger um mich und machte mich auf den Weg zur Eingangstür, an der einige Knoblauchgirlanden hingen. Es war seltsam, wie
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