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Moonshine - Stadt der Dunkelheit

Moonshine - Stadt der Dunkelheit

Titel: Moonshine - Stadt der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alaya Johnson
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verlassen die Straße war. Nur ein paar vereinzelte Menschen hasteten mit hochgezogenen Schultern zielstrebig durch den Wind. Wo waren die Kinder? Wenn die Straßen an einem Sonntagmorgen so weiß verschneit und vereist waren, hätte ich eigentlich über sie stolpern müssen. Ich griff mit der Hand im Handschuh nach dem Knauf, um zu prüfen, ob die Tür offen war.
    »Was wollen Sie hier?«
    Die Stimme war weiblich und hatte einen kräftigen Akzent. Unwillkürlich machte ich einen Satz zurück und wäre auf dem Eis beinahe ausgeglitten. Eine Frau stand ruhig neben der Tür, tief verborgen in den Schatten des Überstands aus Granit. Meine Augen hatten sich so an das frühmorgendliche Blenden des Schnees gewöhnt, dass ich sie etwas zusammenkneifen musste, um die Umrisse der Gestalt zu erkennen: Die Frau war erstaunlich klein für eine solch laute Stimme und sehr alt, obwohl ich wusste, dass man bei Einwanderinnen das Alter manchmal nur schwer einschätzen konnte.
    »Ich suche jemanden«, erwiderte ich. Ein plötzlicher Windstoß sprühte eisigen Schnee gegen meine Wangen.
    »Ich glaube nicht, dass heute ein guter Tag ist für Unterricht in Sitte und Anstand. Oder geht es um richtige Hygiene? Geben Sie vielleicht Ratschläge für gute Ernährung? Oder sind Sie evangelisch?«
    Es war merkwürdig, dass diese Fremde mich so genau durchschaute – und so verächtlich ansah. Ich hatte geglaubt, die Einwandererfamilien wären dankbar für die Hilfe, die der
Bürgerrat
ihnen zukommen ließ, doch anscheinend war das nicht immer der Fall.
    Ich zuckte die Achseln. »Ich bin Zephyr Hollis«, sagte ich und streckte die Hand aus. »In dieser Gegend wurde ein Junge aufgefunden, und ich hoffe, dass mir jemand helfen kann, seine Eltern aufzuspüren.«
    Die Frau, die jüdisch aussah und einen osteuropäischen Akzent hatte, hatte die Arme fest vor der Brust verschränkt. Sie blickte mich ein paar unangenehm lange Sekunden an, bis ich aufgab und meine Hand wieder in die Manteltasche schob.
    »Wer ist der Junge?«
    »Sein Name ist Judah. Er ist ungefähr elf, hat rote Haare und Sommersprossen.«
    »Einwanderer?«
    »Ich weiß es nicht. Er hat keinen besonders starken Akzent.«
    Sie überlegte. »Und seine Kleider?«
    Kurz tauchte das Bild des kleinen Jungen in einer leuchtend gemusterten Hose und spitz zulaufenden Schuhen in Kardals prächtigem Palast vor mir auf. Aber ich musste weiter zurückdenken. »Er hatte eine Kniebundhose aus Cord und eine Anzugjacke aus brauner Wolle an. Dazu eine graue Kapitänsjacke und einen einzelnen blauen Strickfäustling.«
    Die Frau schüttelte den Kopf. »Keiner von unseren. Die Kleider sind zu fein. Wann haben Sie ihn gefunden?«
    »Am Donnerstag.«
    Die Tür ging auf, und eine weitere, jüngere Frau trat heraus in die Kälte. »Esther«, sagte sie, »geh wieder rein. Ich werde jetzt übernehmen.«
    Esther wandte den Blick nicht von mir ab, als sie das Gewehr nahm, das sie unter ihrem Mantel versteckt gehalten hatte, und es der anderen Frau reichte.
    »Chavie, diese Frau sucht die Mutter eines Jungen, der am Donnerstag verschwunden sein muss. Hast du irgendetwas gehört?«
    Die Angesprochene hob das Gewehr hoch und blickte die verlassene Straße hinauf und hinunter. »Donnerstag? Die Jungs haben mir was von einem Aufruhr in der Catherine Lane erzählt. Aber von einem Kind war nicht die Rede.«
    »D… Danke«, sagte ich und hoffte, dass sie mein Stammeln der Kälte zuschreiben würden, obwohl ich es besser wusste. »Was, wenn ich fragen darf …«
    Esthers Blick verfinsterte sich. Sie schien mich geradezu herausfordern zu wollen, den Satz zu beenden.
    Ich schluckte und sagte: »Es ist
Faust
, nicht wahr?«
    Chavie umklammerte das Gewehr. »So nennen sie es? Schweineblut. Als wäre es nicht schon abscheulich genug, überhaupt ein Blutsauger zu sein.« Sie wandte den Blick wieder der Straße zu. »Es sind noch immer einige da draußen, die sich in den Schatten verstecken.«
    Esther legte eine Hand auf Chavies Ellbogen. »Eines der Mädchen aus dem fünften Stock ist heute Morgen gebissen worden«, erzählte sie mir.
    Na ja, das erklärte, warum keine Kinder auf der Straße waren. »Seien Sie vorsichtig«, sagte ich und betrachtete das Gewehr. Ohne Zweifel fühlten sie sich damit sicherer, nichtsdestotrotz hasste ich es, wenn etwas unsachgemäß gemacht war.
    »Die Munition …«, begann ich, hielt dann aber inne. Wenn sie Silberkugeln verwendeten, was würde dann mit den Vampiren geschehen, die sie

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