Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Moonshine - Stadt der Dunkelheit

Moonshine - Stadt der Dunkelheit

Titel: Moonshine - Stadt der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alaya Johnson
Vom Netzwerk:
wenn ich ihn sah. »Das werde ich. Danke für Ihre Hilfe.«
    Nachdem sie ihr Fenster geschlossen hatte, wandte ich mich zum Gehen. Damit war klar, dass Nicholas und die
Turn Boys
Judah irgendwo anders mitgenommen und anschließend hier liegen gelassen hatten. Das machte den
South-Ferry-
Anleger noch wahrscheinlicher.
    Ich holte mein Fahrrad, fuhr langsam die Lafayette Street entlang und suchte vergeblich nach weiteren Hinweisen. Eigentlich war ich längst nicht mehr im Revier der
Turn Boys
. Ich hatte nie davon gehört, dass sie auch so weit von Little Italy entfernt noch Menschen angriffen. Fast wirkte es so, als hätten sie sich Judah gezielt ausgesucht – wenn mir doch nur ein einziger plausibler Grund einfallen würde, warum eine abgebrühte Gang wie die
Turn Boys
am Schicksal eines elfjährigen Jungen interessiert sein könnte. Esther, die Frau in der Leonard Street, hatte gemeint, dass Judah für ihren Stadtteil ein bisschen zu gut angezogen war. Wenn ich so darüber nachdachte, hatte sie vermutlich recht. Vielleicht
hatten
die
Turn Boys
Judah absichtlich ausgewählt – nicht aufgrund eines persönlichen Racheplans, sondern um den wohlhabenderen Bewohnern der Lafayette Street und der Park Row zu zeigen, dass auch sie verletzbar waren. Nur wenn dem so war, warum hatten sie sich dann die Mühe gemacht, den Körper in einer Seitengasse weiter im Norden der Stadt zu verstecken?
    Ich schüttelte den Kopf – und blickte gerade rechtzeitig auf, um den dicken Schneeball auf meinen Kopf zusegeln zu sehen. Im nächsten Moment stachen Eiskristalle in meine Wange und meine Augenlider, und grober Schnee füllte meinen Mund. Ich spuckte aus und wirbelte herum, aber die Kinder, die mich beworfen hatten, rannten längst kreischend die Straße hinab. Eines von ihnen drehte sich um und winkte.
    »Elende Gören«, murmelte ich und winkte zurück.
    Nur wenige Häuserblocks von der Leonard Street entfernt war die Atmosphäre merklich weniger düster. Den Grund dafür bemerkte ich sofort: An diesem Sonntagmorgen patrouillierte überall die Polizei auf den Straßen um die Elm und Park Row. Selbstverständlich war hier, in der Nähe des Rathauses, nichts anderes zu erwarten gewesen. Die Wache war nicht einmal einen Block weit weg, und die Polizisten neigten dazu, besonders gut auf diejenigen zu achten, die es sich leisten konnten, ihnen ihre Gehälter zu versüßen.
    Wie Judahs Mutter?
     
    Die Polizeiwache war so überfüllt, dass die Warteschlange bis hinaus auf die Straße reichte. Die meisten der Leute boten einen nur allzu vertrauten Anblick: erschöpft, gehetzt, ihre Kleider seit einigen Jahren aus der Mode und verschlissen. Aus dem Stimmengewirr hörte ich vor allem deutsche und jiddische und russische und italienische Ausdrücke heraus, gemischt mit Englisch. Es schien, als hätten die Bewohner der Mietshäuser in den einzelnen Wohnvierteln sich entschlossen, die Störungen der vergangenen Nacht direkt an der Quelle zu melden.
    Als ich mich durch die Menge drängte, kam ich an einem Mann mit einem blassen, fast gelblichen Gesicht vorbei, der ein dreckiges Taschentuch an seinen Hals presste. Eine Frau stand neben ihm, drehte unablässig die Perlen ihres Rosenkranzes in den Fingern und murmelte stille Gebete. Ich zwang mich, wegzusehen – niemand wusste, warum einige Menschen anfälliger waren, sich zu wandeln, als andere. Aber ich war schon ein paarmal Zeugin dieses quälenden Wartens gewesen und verspürte nicht den Wunsch, es noch einmal zu erleben.
    Weiter vorn im Empfangsbereich versuchten vier Polizeibeamte, die Aussagen aufzunehmen. Allerdings hatte die Menge mit wachsender Ungeduld auch die Stimmen erhoben, und die wütenden Rufe der Menschen übertönten alles andere.
    »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass sich einer dieser Blutsauger noch immer in unserem Häuserblock aufhält! Wir haben Angst, unsere Kinder rauszulassen. Sie müssen …«
    »Unsere Tochter, sie ist verschwunden. Sie haben versprochen …«
    »Aber die Blutbank ist leer! Wie sollen wir …«
    Großartig. Wie zum Teufel sollte ich in diesem Chaos etwas über Judah herausfinden? Wenigstens musste ich mir keine Gedanken darüber machen, mich möglichst unauffällig zu verhalten. In diesem Menschenansturm würden die Polizisten sich niemals an mich erinnern können. Ich hatte mich beinahe bis zum Tresen vorgedrängelt, als mir plötzlich eine vertraute Silhouette ins Auge sprang. Sie stach aus der Menge der ärmlichen Leute heraus – und

Weitere Kostenlose Bücher