Moonshine - Stadt der Dunkelheit
»Natürlich nicht. Ich verspreche dir, sie aus meinen Schwierigkeiten herauszuhalten. Zufrieden?«
Kardal schüttelte den Kopf und begann zu verblassen. »Wir alle haben Vater für verrückt gehalten, als er dich so spät noch ins Leben gehaucht hat.«
Amir starrte auf die Stelle, an der sein Bruder gerade noch gestanden hatte, und legte sich die Fingerspitzen an die Schläfen. Dann wandte er sich zu mir um. Ein gequältes, reumütiges Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
»Tut mir leid, dass du das mit ansehen musstest«, sagte er.
»Hörte sich so an, als hätte Kardal dir eine unangenehme Lektion in Sachen Ritterlichkeit erteilt.«
»Ich hoffe, es bleibt bei den Anstandsregeln. Ich schätze meine Haut nämlich sehr.« Er warf mir ein verschwörerisches Lächeln zu. »Wie du sicherlich weißt. Kardal ist manchmal so … vierzehntes Jahrhundert eben. Ich dagegen unterstütze die feministischen Ideale. Willst du mir denn noch immer helfen?«
»Musst du das fragen?«, entgegnete ich.
Ich sah wieder Judah an, der sich nicht gerührt hatte. Der Junge sah besser aus, nahm ich an, obwohl er weniger kindlich wirkte als zuvor. Nicht so verwirrt und ängstlich, eher düster und wild. Amir hatte sich zwar nicht darum bemüht, ihm etwas Passendes für die winterliche Kälte anzuziehen, doch wenigstens machte er nicht mehr den Eindruck, als wäre er gerade dem Serail entsprungen. Ich hatte keine Angst vor ihm, trotzdem fragte ich mich mit einem Mal, welche Mutter mir danken würde, wenn ich ihr dieses Kind zurückbrachte.
»Judah«, sagte ich und beugte mich hinunter, damit ich ihn besser betrachten konnte. »Wir werden jetzt ein bisschen spazieren gehen. Du musst mir Bescheid sagen, sobald dir etwas bekannt vorkommt, ja? Wenn dir irgendetwas vertraut ist, lass es mich wissen. Wir wollen versuchen, deine Mutter zu finden.«
Judah schien einen viel zu langen Moment über meine Worte nachzudenken und nickte schließlich. »Meine Mutter ist sehr schön. Sie liebt mich. Daran kann ich mich erinnern.«
»Und dein Papa?«
»Mein Papa ist tot«, sagte er voller Überzeugung.
Gott, seine Stimme war so hoch und unschuldig. Aber der Klang, der darin mitschwang, war irgendwie verführerisch, wahrhaft vampirisch. Wenn er lange genug lebte, wäre er mit seiner Stimme vermutlich dazu in der Lage, mich zu bannen. Im Augenblick war ich jedoch sicher, denn er wusste nicht, wozu er fähig war.
Wir brauchten nicht lange, um uns die Gegend um die Water Street anzuschauen und den Battery Park zu erreichen, von wo aus man einen guten Blick auf den nächtlichen
South-Ferry-
Anleger hatte. Judah reagierte mit dem höflichen Interesse eines Touristen auf den Ort. Wir achteten darauf, an allen Orientierungspunkten entlangzulaufen, die ihm hätten bekannt sein können, doch er schüttelte nur den Kopf, wann immer wir fragten, ob er etwas wiedererkenne. Wir hatten das meiste vom Park gesehen – und ich fragte mich still, ob ich meine Fingerspitzen jemals wieder spüren würde –, als ein Lastkahn mit Müll auf dem East River in unser Blickfeld schipperte. Fasziniert verfolgte Judah, wie der Kahn abdrehte, um den Hudson River hinaufzufahren. Plötzlich stieß das Schiff ein tiefes Heulen aus, das in der Stille der Januarnacht unheimlich klang. Ich konnte nachvollziehen, dass sich ein Kind vor diesem lauten Signalhorn fürchtete, und tatsächlich hatte Judah sich vom Wasser abgewandt und blickte Amir mit beginnender Panik in den Augen an.
»Erkennst du das?«, fragte Amir, woraufhin ich ihn anfunkelte. Konnte er nicht zumindest versuchen, den Jungen zu trösten?
»Das ist sehr laut«, erwiderte Judah leise. »Es klingt wie Gebrüll.«
Ich hätte ihn ja selbst getröstet, doch mir fiel gerade etwas Merkwürdiges ein, das Nicholas heute Nachmittag gesagt hatte – etwas über seinen Papa, der ihn mit einem »brüllenden Biest« zusammen in einen Käfig gesperrt habe. Auf einmal wurde mir klar, dass der tiefe Laut des Signalhorns eines Müllkahns mit der richtigen Akustik durchaus wie ein brüllendes Tier klingen konnte.
Ich rannte, bis ich die Kante der Kaimauer erreichte, und blickte hinab. Tatsächlich mündeten einige der Kanäle, durch die der Regen in den Fluss ablief, genau hier. War
das
möglicherweise Nicholas’ »Käfig«?
»Amir«, sagte ich, als er und Judah zu mir traten, »kannst du da hinuntergehen und nachsehen, ob du irgendetwas Verdächtiges entdeckst?«
»Das sind Regenkanäle«, erwiderte er, als hätte ich ihn
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