Moonshine - Stadt der Dunkelheit
und Rhetorik‹«, murmelte ich. »Wie viele Sprachen sprichst du eigentlich?«
Amir lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ungefähr achtzig. Kardal spricht über tausend Sprachen, wenn man die Dialekte mitrechnet. Aber wir sind Dschinn, ich kann innerhalb einer Woche jede Sprache lernen.«
»Weniger offensichtlich als lodernde Augäpfel, aber …«
»Vermutlich nennt ihr uns deshalb die
Anderen
.«
Zehn Minuten später brachte der Kellner das Essen: Auberginen mit Peperoni, Knoblauch, ein Berg Schnittlauch und andere Kräuter, die ich nicht erkannte, Gemüseknödel und zwei Teller mit weichen Stücken, die Amir »Tofu« nannte. Es war genug für mindestens vier Leute. Der Mann stellte eine Salatschüssel mit weißem Reis vor mich, lächelte ermutigend und brummte etwas, das vermutlich so was wie »Auf geht’s!« heißen sollte.
Ich starrte Amir an. »Erwartest du noch jemanden?«
»Iss, Zephyr. Du siehst aus, als würdest du gleich verhungern.«
Ich betrachtete das Essen. Das Aroma war so appetitlich, dass mir Tränen in die Augen traten. Tja, verdammt, wenn er mir gern so viel zu essen ausgeben wollte – ich würde bestimmt nicht nein sagen. Ich ergriff die Essstäbchen und packte unbeholfen ein Stück Aubergine. Es versengte mir den Mund, brannte scharf auf der Zunge und machte meine Nase frei. Ich fluchte.
»Zu würzig?«
Ich nahm noch ein Stück. »Köstlich«, erwiderte ich.
Amir stocherte nur im Essen herum, doch mein Appetit war ungebremst, und ich kostete alle Gerichte. Der Tofu schmeckte zuerst ein bisschen seltsam, doch am Ende des Mahls hatte ich einen der Teller komplett geleert. Ich war mehr als satt, und es fühlte sich wundervoll an.
»Danke dafür«, sagte ich ehrlich, als wir kurz darauf wieder nach draußen in die stürmische Kälte traten.
Zufrieden strich er mir mit den Fingern über den Nacken. Ich seufzte – allerdings nicht nur vor Behagen. Ich war satt, Amir war schön und bezaubernd und glücklich an meiner Seite, Nicholas hatte mir endlich einen Hinweis darauf gegeben, wo er Judah gewandelt hatte … und dennoch konnte ich dieses Gefühl der Beklemmung nicht abschütteln. Warum brauchte Amir Rinaldo? Was war passiert, dass er trotz seiner schrecklichen Lage plötzlich so gelöst wirkte?
Ich dachte an Aileen und ihre merkwürdige Warnung:
Ich weiß, dass du dich verletzen, dir weh tun wirst, wenn du machst, was er verlangt.
Nein – er hatte mich bezahlt, und ich würde nicht zulassen, dass Aileens traumabedingte Hysterie in mir ein unbegründetes Misstrauen gegen Amir weckte.
Amir verschwand, als wir die Water Street erreichten. Mitten im Kuss. Ich konnte noch immer sein Lachen auf meinen Lippen spüren, als ich plötzlich allein dastand. Zitternd wartete ich ein paar Minuten, bis er mit Judah zusammen zurückkehrte. Doch sie waren nicht allein. Ich erkannte die dritte Person nicht, bis ich seinen unverwechselbaren Bass rumpeln hörte: Kardal hatte eine Gestalt angenommen, die beinahe menschlich wirkte – wenn man nicht zu genau hinsah. Natürlich wirkte er wie ein Araber, mit seiner rauchigen Haut, dem mit Juwelen besetzten Turban und der langen, in Brokat gefassten Tunika. Ein ziemlicher Kontrast zu Amirs makelloser moderner Kleidung. Die beiden Brüder waren gerade in eine hitzige Diskussion vertieft, Judahs Anwesenheit hatten sie anscheinend komplett vergessen. Ich trat näher zu dem Kind. Der Junge sah mich an, berührte mich jedoch nicht.
»Du warst schon immer eine verantwortungslose, gefühllose, selbstsüchtige, undankbare Person, Amir, aber jetzt bist du zu weit gegangen. Das sind deine Schwierigkeiten, Bruder! Du kannst von einem unschuldigen Menschen, der nicht mal ein Zehntel so alt ist wie du, nicht erwarten, dass er deine Probleme für dich löst!«
»Ich erwarte nicht von ihr, dass sie …«
»O doch, das tust du. Ich kenne dich. Du benutzt sie, wie du die Frau vor dem osmanischen Gericht benutzt hast oder das Beduinenmädchen oder die französische Magd …«
»Sie hatten Namen, Kardal«, sagte Amir mit so gefährlich ruhigem Zorn, dass ich Angst bekam.
»Und ich bin mir sicher, dass du dich nicht an sie erinnern kannst! Halte sie da raus, Bruder. Sie hat das nicht verdient.«
Eine ganze Weile schwieg Amir, während er unablässig die Hände öffnete und schloss. »Bist du fertig?«, fragte er schließlich.
»Sie hat das nicht verdient«, wiederholte Kardal ziemlich unerbittlich.
Amir hob den Blick, als wollte er den Himmel anflehen.
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