Moorseelen
rauskehren wollte, hielt ich den Mund und bezog nur schweigend Decke und Kopfkissen, wobei mir Aryana sofort half. Prompt hatte ich ein schlechtes Gewissen: Die Bewohner der Oase hatten mich so nett aufgenommen. Weder Mia noch eins der anderen Mädchen hatten gemosert oder sich beschwert, dass eine Wildfremde nun bei ihnen im Zimmer schlief – wieso konnte ich mich dann nicht auch ein bisschen zusammenreißen? »Danke«, murmelte ich daher, ehe ich mit meiner Tasche in dem kargen Badezimmer verschwand, um mir die Zähne zu putzen und meine Schlafklamotten anzuziehen. Danach rollte ich mich in meine Decke auf dem fremden Bett in dem fremden Raum ein und lauschte den Atemzügen der Mädchen. Ich konnte lange nicht einschlafen. Das Mondlicht fiel ungehindert durchs Fenster und tauchte das Zimmer in ein kaltes, bleiches Licht. Die Bettfedern der Stockbetten ächzten jedes Mal, wenn sich eine im Traum umdrehte, und es dröhnte in meinen Ohren. An Schlaf war nicht zu denken, außerdem gingen mir Zenos Verhalten und meine Lüge mit dem Ausweis nicht aus dem Kopf. Leise schälte ich mich aus meiner Decke und angelte nach meinem Rucksack. In einem der hinteren Fächer meines Portemonnaies steckte mein echter Personalausweis. Verstohlen schob ich ihn in die Tasche meiner Jeans, die neben meinem Bett lag. Nur für den Fall, dass jemand auf die Idee kommen würde zu schnüffeln, dachte ich und schämte mich sofort für diesen Gedanken. Trotzdem wollte ich auf Nummer sicher gehen. Als ich mich wieder hinlegte, knarrten die Bettfedern und mit angehaltenem Atem lauschte ich, ob eins der Mädchen aufgewacht war. Aber sie schliefen alle tief und fest. Irgendwann musste wohl auch ich eingedöst sein, denn als jemand meinen Namen rief, schreckte ich aus einem wirren Traum auf, in dem meine Mutter in einem Rollstuhl gesessen hatte, der in aberwitzigem Tempo einen Berg hinunterrollte, während ich hinter ihr herlief und weinend rief, sie solle auf mich warten. »Feline!«, tönte es erneut. Ich schlug die Augen auf. Milchiges Dämmerlicht erfüllte das Zimmer, und die Frühmorgenkälte kroch mit langen Tentakeln durch die Ritzen. Ich schauderte und mummelte mich tiefer in meine Decke.
»Hey, aufwachen!« Das war Mias Stimme. Unwillig wälzte ich mich herum und sah sie neben meinem Bett knien. Sie sah so munter aus, als hätte sie zwölf Stunden geschlafen und wäre schon eine Runde joggen gewesen.
»Was ’n los, wie spät is’ denn?«, brachte ich heraus.
»Fünf Uhr, Frühstückszeit«, antwortete Mia fröhlich.
»Och nee, oder?«, ächzte ich. Früh aufstehen war überhaupt nicht mein Ding. Schon wenn ich morgens um sieben zur Schule rausmusste, war das für mich Folter. Aber fünf Uhr war absolut indiskutabel. Eigentlich. Denn wenn alle um diese Zeit aus den Federn kamen, blieb mir nichts anderes übrig, als mich anzuschließen. Hatte ich nicht gestern Abend noch unbedingt hierbleiben wollen? Also warf ich die Decke von mir und quälte mich aus dem Bett. Ich hatte das Gefühl, höchstens zwei Stunden geschlafen zu haben.
»Daran gewöhnst du dich«, sagte Aryana tröstend, als ich schlaftrunken ins Bad wankte und dabei fast gegen die Tür gelaufen wäre.
Eine Viertelstunde später hockte ich übermüdet und frierend an der langen Tafel im sogenannten Gemeinschaftshaus. Ein riesiger Tisch aus massivem, wurmstichigem Holz nahm fast den ganzen Platz ein. Drumherum waren verschiedene Stühle gruppiert, einige mit Holzlehne, andere mit Sitzpolster und Armstützen. Obwohl alles bunt zusammengewürfelt war, strahlte der Raum doch Behaglichkeit und ein Gefühl von Zusammengehörigkeit aus. Riesige Kannen standen auf dem Tisch und die Bewohner schenkten sich daraus in Tonbecher ein, die garantiert selbst getöpfert waren. Leider gab es nirgendwo einen Schluck Kaffee, sondern nur Mate- oder Grüntee. In Ermangelung von Koffein hielt ich mich an die grüne Variante, von dem anderen Gebräu ließ ich seit dem Probierschluck nach meiner ersten Übernachtung die Finger. Zu meiner Verwunderung standen weder Teller auf dem Tisch, noch konnte ich irgendwo Brot und Butter entdecken. Stattdessen stand an jedem Platz eine – ebenfalls tönerne – Schale, daneben lag ein Löffel. Müslifraktion, dachte ich seufzend, hätte ich mir eigentlich denken können. In dem Moment schleppte Urs einen riesigen Topf an, den er mit einem dumpfen Laut auf einen Untersetzer stellte.
»Ladies first«, sagte er mit einem schiefen Lächeln und reichte mir eine
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