Moorseelen
Lebensmitteln, die offenbar auf einer Müllkippe gelandet waren. Hungernde Kinder, die irgendwo unter sengender Sonne auf kargem Lehmboden kauerten, ihr stumpfer, hoffnungsloser Blick schien uns direkt von der Leinwand anzuspringen. Breite Schneisen gefällter Bäume, eine Wunde aus Holzsplittern, die in den Regenwald geschlagen war. Die Nahaufnahme eines Affenbabys, das die Augen panisch aufriss, den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet … Aus den Augenwinkeln sah ich Irina, die sich so hart auf die Unterlippe biss, dass ihre Zähne sich in das weiche Fleisch gruben. Über Aryanas Gesicht liefen Tränen.
»Das alles hat der Mensch geschaffen«, erklang Zenos Stimme. »Der Mensch, der sich als Krone der Schöpfung bezeichnet, schafft überall Leid und Tod. Tiere müssen qualvoll verenden und werden zum Schlachten gezüchtet, weil der Mensch glaubt, nicht ohne Fleisch leben zu können. Dabei schmeißt er tonnenweise Lebensmittel weg, nur weil das Obst eine braune Stelle hat oder das Haltbarkeitsdatum der Milch abläuft. Der durchschnittliche Konsument kauft zu viel ein, mehr als er braucht – und dann wirft er die Sachen in den Müll. Dass er damit den Hunger in der Welt verstärkt, ist ihm egal. Würden wir weniger wegwerfen, hätten wir mehr Nahrungsmittel und die Preise wären nicht so hoch. Hunger entsteht nicht, weil es keine Nahrung gibt, sondern weil sie für die Menschen, zum Beispiel in Afrika, unerschwinglich ist.«
Ich schluckte und dachte daran, wie oft ich gedankenlos Joghurt, fleckige Bananen oder altes Brot in die Tonne geschmissen hatte. Und ich war noch stolz gewesen, dass ich das Zeug in den Bioeimer gab und ökologisch-korrekte Mülltrennung betrieb. Jetzt fühlte ich mich deswegen schuldig.
»Wir in der Oase leben anders«, fuhr Zeno fort. »Wir achten die Natur. Wir quälen keine Tiere, um sie zu essen, sondern respektieren das Leben. Unseres genauso wie das von allen anderen Lebewesen.«
Als sollten seine Worte unterstrichen werden, wechselten die Bilder auf der Großleinwand. Jetzt sah ich das üppige Grün des Spreewalds und dazwischen die kleinen Wasserkanäle, auf denen eine Entenfamilie in trauter Einigkeit dümpelte. Trauerweiden tunkten ihre belaubten Zweige in das kühle Nass. Eine winzige Schnecke hing in ihrem Haus an einem Grashalm schwerelos in der Morgenluft. Ein Spinnennetz funkelte von Tautropfen schöner als jedes Tiffany-Collier. Dieser Anblick war eine Erholung zu der schrecklichen Realität, wie sie in den Schlachthöfen und überall in der Welt lauerte. Ich merkte, wie ich aufatmete.
»Wenn wir zusammenhalten, werden wir das Bewusstsein der Menschen ändern. Nicht sofort und nicht bei jedem. Aber wir werden immer mehr Leute, die sich gegen Gewalt und Leid entscheiden. Wir können es schaffen! Wir haben den Schlüssel dazu!«, skandierte Zeno. Ich merkte, wie ich bei jedem seiner Sätze unwillkürlich nickte. Ja, wir konnten es schaffen.
Kali legte mir den Arm um die Schultern. »Uns alle hat das Schicksal hierhergeführt«, meinte sie ernst. »Nicht jeder kriegt die Chance, so etwas Besonderes wie unsere Gemeinschaft zu erleben.«
Ich sah sie an – und wusste plötzlich: Kali hatte recht. Auf einmal erschien mir alles so klar, als wäre auf einer Theaterbühne der Vorhang aufgegangen. Und ich glaubte, zu verstehen, warum ich hier kein Handy mehr besaß. Warum ich in der Küche Berge von Gemüse schnitt und abends faden Eintopf aß. Ich wollte nicht mehr schuld sein, dass es anderen Lebewesen meinetwegen schlecht ging. Ich wollte Teil eines großen Ganzen sein, dazugehören. Zu der Oase – und zu Zeno. Ich aß schon seit Jahren kein Fleisch mehr. Doch jetzt war ich damit nicht mehr alleine. Meine Ankunft in der Oase war wohl tatsächlich Bestimmung und ich würde hier eine neue Familie finden, wenn ich schon nicht mehr in meine alte passte. Ein überwältigendes Gefühl von Zuneigung zu der Kommune und ihren Bewohnern durchströmte mich wie die Wärme eines kuscheligen Kaminfeuers. Unwillkürlich drehte ich den Kopf und lächelte Aryana und Juli an, die hinter mir saßen. Und als spürten sie, was in mir vorging, rutschten beide ein Stück zu mir und wir nahmen uns impulsiv in den Arm. Erst als mir zwei Tränen die Wangen hinunterliefen, merkte ich, dass ich weinte. Jedoch nicht aus Kummer. Seit ich meine Mutter verloren hatte, hatte ich mich nicht mehr so geborgen gefühlt.
*
»Nick Brandstätter hier, hallo?«
»Tag, Nick. Hier ist Bernd Tauber. Der Vater von
Weitere Kostenlose Bücher