Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

MoR 02 - Eine Krone aus Gras

Titel: MoR 02 - Eine Krone aus Gras Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCullough
Vom Netzwerk:
Ereignis miterleben: die Auswahl der Streitrösser für das Oktoberrennen oder die Übungen einer stolzen Gruppe von Gladiatoren, die man für ein Begräbnis am folgenden Tag angeworben hatte.
    »Aber ich will nicht immer eine Pflicht haben, kann ich sie denn keinen Augenblick vergessen?«
    Seine Mutter antwortete dann: »Nein, Gaius Julius. Die Pflicht begleitet dich jeden Moment deines Lebens, bei jedem Atemzug, und du darfst sie nie vergessen, um dir ein angenehmes Leben zu machen.«
    Also ging er mit zielsicheren Schritten und ohne zu bummeln zum Haus des Gaius Marius. Und nie versäumte er es, zu lächeln und Bekannte zu grüßen, wenn er durch die belebten Straßen der Subura eilte. Wenn er an den Buchläden in der Straße Argiletum vorbeikam, zwang er sich, etwas schneller zu gehen, damit er nur ja nicht in Versuchung kam und hineinging. Er beherzigte alle ruhigen, aber unbarmherzigen Ermahnungen der Mutter: nie trödeln, sich nie den Anschein geben, als hätte man Zeit, nie den Wünschen nachgeben, auch bei den Büchern nicht, immer lächeln und alle grüßen, die einen kennen, und viele andere auch.
    Bevor er bei Gaius Marius anklopfte, lief er manchmal die Stufen des Turms an der Porta Fontmalis hinauf und blickte von oben auf das Marsfeld hinab. Zu gern hätte er mit den anderen Jungen dort unten die Holzschwerter gekreuzt, zugestoßen und Hiebe pariert, irgendeinen rauflustigen Dummkopf ins Gras geprügelt, auf den Feldern an der Via Recta Rettiche gestohlen und bei Jungenstreichen mitgemacht. Doch dann sprang er wieder die Stufen des Turms herab, lange bevor er sich an den Szenen satt gesehen hatte, und noch ehe jemand bemerkte, daß er sich einige Augenblicke verspätet hatte, stand er vor der Tür des Gaius Marius.
    Caesar liebte seine Tante Julia, die ihm gewöhnlich persönlich öffnete. Immer hatte sie ein Lächeln für ihn übrig und immer einen Kuß. Wie schön war es, geküßt zu werden! Seine Mutter hielt nichts vom Küssen. Küssen verderbe den Menschen, sei etwas für die Griechen und überhaupt nicht moralisch. Zum Glück war Tante Julia anderer Ansicht. Wenn sie sich vorbeugte und ihm den Kuß auf die Lippen drückte — nie daneben auf die Backe oder auf das Kinn —, schloß er die Lider und sog genüßlich bis zum letzten Hauch ihren Duft in seine Nase. Viel später, als Julia schon lange tot war, stiegen dem alternden Gaius Julius Caesar, wenn er auf der Haut einer jungen Frau wieder Julias Duft zu riechen meinte, unwillkürlich die Tränen in die Augen.
    Julia berichtete ihm immer, wie sich Gaius Marius fühlte, daß er sehr mürrisch sei an diesem Tag, daß er Besuch von einem Freund empfangen habe und guter Dinge sei oder daß er sehr niedergeschlagen sei, weil es ihm scheine, als werde die Lähmung schlimmer.
    Gewöhnlich brachte Julia Gaius Marius am späten Nachmittag das Abendessen und schickte Caesar fort, damit er sich für kurze Zeit von seinen Pflichten erholen konnte, während sie ihren Mann selbst fütterte. Dann machte er es sich auf dem Sofa in ihrem Arbeitsraum bequem, las beim Essen in einem Buch — zu Hause hätte er das nie gedurft — und vertiefte sich in den Rhythmus der Verse und in das Tun und Treiben der Helden. Die Worte entfalteten ihren stillen Zauber, machten ihm das Herz leicht, ließen es stocken oder galoppieren. Zuweilen, wenn er Homer las, erstand durch die Worte vor ihm eine Welt, die wirklicher war als die, in der er lebte.
    Dem Tod haftete nichts Schreckliches an, nur Schönes, sagte er sich immer wieder, wenn er den jungen Krieger tot vor sich sah, so tapfer, so edel und so vollkommen, daß er, wäre er Achilleus, Hektor oder Patroklos, noch über den eigenen Tod triumphierte.
    Wenn er dann die Tante rufen hörte oder ein Diener an die Tür des Arbeitszimmers klopfte und sagte, er werde wieder gewünscht, ließ er das Buch sofort sinken und kehrte zurück zu seiner Pflicht, weder verärgert noch niedergeschlagen.
    Gaius Marius war eine schwere Pflicht. Er war alt — dünn, dick und wieder dünn —, auf der gelähmten linken Seite seines Gesichtes hing die Haut schlaff in Falten und Wülsten herab. Und dann dieser schreckliche Blick. Ohne daß er es offenbar bemerkte, lief ihm Speichel aus dem linken Mundwinkel, sickerte in die Tunika und hinterließ einen feuchten Fleck. Gaius Marius schimpfte manchmal aus heiterem Himmel los, und dann traf es meist den unglückseligen Gefährten, weil er als einziger lange genug bei ihm war, daß Marius sich an

Weitere Kostenlose Bücher