Morag und der magische Kristall
die Scheibe näher besah.
Es war in der Tat eine Kette. Mit einem Medaillon, um genau zu sein, und obendrein einem sehr schönen. Der Rand war mit funkelnden rosafarbenen und gelben Edelsteinen besetzt, und in der Mitte befand sich eine runde, flache Scheibe, in die kleine, kaum sichtbare Zeichen eingeritzt waren. Sie hätten eine Nase sein können, ein Mund und zwei kleine Augen.
Morag blinzelte und hielt die Scheibe ins Licht. Sie war davon überzeugt, dass sie undeutlich ein Gesicht erkennen konnte. Während sie die Scheibe betrachtete, schien eins der Augen zu zwinkern. Morag wich erschrocken zurück. Die anderen bemerkten es nicht und fuhren fort, Spekulationen anzustellen.
»Wie es wohl dort hingelangt sein mag?«, fragte Shona.
»Jemand muss es verloren haben«, meinte Aldiss.
»Wer wohl?«, sagte Bertie, der wie gebannt war von der Schönheit des Schmuckstücks. »Es sieht schrecklich wertvoll aus.«
»Das ist es auch!«, rief eine schrille Stimme von der anderen Seite des Waggons. Sie alle drehten sich um und sahen eine dünne Frau in einem langen schwarzen Samtmantel, der mit flauschigen roten Marabufedern und leuchtenden Goldknöpfen besetzt war. Sie kam auf sie zu. »Ah, da ist er ja! Ich habe überall nach ihm gesucht. Er muss heruntergerutscht sein, als ich nicht hingeschaut habe.«
»Er?«, wiederholten die vier Freunde wie aus einem Mund. Sie sahen die Frau fragend an.
»Ja«, sagte sie, während sie herbeigerauscht kam und eine schlanke Hand ausstreckte. Morag wich zurück, bevor die Frau ihr das Medaillon entreißen konnte. Die Fremde wirkte verärgert.
»Ja, er «, sagte sie und deutete mit dem Kopf auf das Schmuckstück. »Henry«, fügte sie hinzu, als müssten sie ihn kennen.
»Wer ist Henry?«, fragte Bertie.
» Das ist Henry«, sagte die Frau und zeigte auf das Medaillon. Morag betrachtete es. Sie meinte doch gewiss nicht …
»Ja, das da!«, beharrte die Frau, deren Stimme nun endgültig verärgert klang. »Das ist Hieronymus Algernon. Ich nenne ihn Henry. Er ist absolut stubenrein, hat aber die Angewohnheit, verloren zu gehen, habe ich nicht recht, Henry?«
Alle drehten sich um und schauten das Medaillon in Morags Hand an. Es bewegte sich nicht und es sprach nicht. Es zwinkerte nicht einmal, ganz gleich wie genau Morag hinsah. Die Frau machte noch einen Schritt vorwärts.
»Und ich will ihn jetzt zurückhaben, vielen Dank«, sagte sie und streckte erwartungsvoll die Hand aus.
Zuerst war Morag zu verblüfft, um zu reagieren, aber dann kam sie wieder zu Sinnen. Sie zog die Hand, in der sie das Medaillon hielt, weg.
»Woher soll ich wissen, dass es Ihnen gehört?«, fragte sie trotzig und blickte in das verblüffte Gesicht der Frau.
»Natürlich gehört er mir, du dummes Mädchen«, erwiderte sie steif. »Wer sonst sollte ihn haben wollen?«
»Wie kannst du es wagen, das zu sagen!«, erklang eine blecherne Stimme von irgendwo, nein, nicht von irgendwo, sondern aus Morags Hand.
Mit einem angstvollen Kreischen ließ sie das Medaillon fallen und es rollte zurück unter Shonas Sitz.
»Autsch!«, schimpfte das Medaillon laut. »Muss denn jeder mich ständig fallen lassen?«
»Oh, oh, mein armes Baby!«, rief die Frau schrill. Sie ging in die Knie und tastete den Boden unter dem Sitz ab. »Komm her, Henry, komm zu mir, sei ein Schatz und roll nicht weg von Mami. Autsch! Henry! Was habe ich über das Beißen gesagt?«
Morag riss ungläubig die Augen auf. Redende, beißende Schmuckstücke gab es nicht, oder?, überlegte sie. Nach allem anderen, was heute geschehen war, war sie sich nicht länger sicher. Sie sah Aldiss an, der schielte und einen Finger neben seinem Ohr kreisen ließ, um anzudeuten, dass er die Frau für verrückt hielt. Morag lachte laut auf. Das erregte die Aufmerksamkeit der Frau und sie tauchte mit geschürzten Lippen unter dem Sitz hervor. Das Medaillon baumelte keck an ihrer Hand.
»Und worüber lachst du, bitte schön?«, fragte sie ungehalten, während sie mit der freien Hand ihr zerzaustes Haar glättete. »Hm?«
Sie sah Morag direkt an, die plötzlich verlegen war und unbehaglich von einem Fuß auf den anderen trat.
»Nichts«, murmelte das Mädchen und starrte zu Boden.
»Sie hat über dich gelacht, du dumme Frau!«, sagte das Medaillon ärgerlich. »Jetzt gib mich ihr zurück! Ich habe dir schon früher erklärt, dass ich nicht bei dir bleibe. Ich werde jetzt meinen eigenen Weg in die Welt hinausgehen – ohne dich. Ich habe es satt, bei deinen
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