Morag und der magische Kristall
und blickte nach oben zum Deck. »Da ist sie!«
Morag holte tief Luft, um ihre zerrütteten Nerven zu beruhigen, und folgte seinem Blick. An Deck stand eine riesige Frau in einem eng anliegenden Gewand aus purpurnem Samt, mit Schlitzen bis zu den Hüften. Darunter trug sie eine schwarze Hose aus Maulwurfsfell und schwarze Lederstiefel. An ihrem Gürtel hingen drei Schwerter. Die Frau hatte eine Mähne langen schwarzen Haares, das von einem dicken, juwelenbesetzten Goldreif zurückgehalten wurde. Sie hatte eins der auffälligsten Gesichter, die Morag je gesehen hatte. Wenn auch nicht schön, war die Frau doch sehr reizvoll, und es bestand eine starke Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrem Sohn.
Morag stöhnte auf. Die Frau kam ihr irgendwie bekannt vor. Dann begriff sie, warum – dies war die Frau, die in Eleanors Esslokal mit dem Kapuzen-Mann gesprochen hatte. Als Morag an Deck trat, lächelte die Frau. Morag erwiderte ihr Lächeln nicht.
»Bist du gut ausgeruht?«, fragte sie und wartete nicht, bis Morag nickte. »Wunderbar.« Sie drehte sich zu ihrem Sohn um. »Arrod, bring das Mädchen an Land.«
»Ja, Mutter.« Der Junge gab Morag einen sanften Schubser. »Hier entlang«, sagte er und deutete auf die schmale Laufplanke. Morag ging langsam darauf zu. »Arrod?«, rief die Frau.
»Ja, Mutter?«
»Beeil dich, wir haben nicht die ganze Nacht Zeit. Wir müssen die Ware loswerden und mit der nächsten Flut in zwei Stunden wieder auslaufen!«
»Ja, Mutter.« Arrod packte Morag am Handgelenk und zog sie über die Laufplanke auf eine hölzerne Pier, die von brennenden Fackeln hell erleuchtet wurde. Riesen standen zu beiden Seiten der Pier Wache. Die Flammen zuckten in dem scharfen Oktoberwind und Morag schauderte. Unter dem Pelzmantel fror sie bis auf die Knochen.
Niemals hätte sie gedacht, dass etwas schlimmer sein könnte als das Leben mit Jermy und Moira, und jetzt, da sie eines Besseren belehrt wurde, hatte sie große Angst.
»Wo b-b-bringst d-d-du mich hin?«, fragte sie den Jungen. Ihre Zähne klapperten vor Angst und Kälte.
Sie entzog ihm die Hand und schlang sich die Arme um den Leib.
Arrod schaute auf sie hinab und wandte dann den Blick ab, als schäme er sich für das, was er tat.
»Dort hinauf«, antwortete er finster und deutete auf das offene Tor einer hoch aufragenden Burg. Hunderte von Holzfackeln, die in Reihen entlang der grauen Granitmauern steckten, tauchten die Festung in flammendes Licht. Riesen in Rüstung standen am Eingang Wache. Zu beiden Seiten des Tores hingen große rotgoldene Banner, die vom Wind wütend hin und her gepeitscht wurden.
Morag konnte gerade noch die dunklen Schatten weiterer Riesen ausmachen, die, bewaffnet mit langen Spießen, langsam auf dem Wehrgang auf und ab marschierten. Es sind mindestens hundert, dachte Morag.
Aus den zahlreichen Rundbogenfenstern strömte Licht. Jedes bestand aus winzigen, rautenförmigen Glasscheiben, die im Fackelschein wie Tausende tanzender Glühwürmchen glitzerten. Mehrmals glaubte Morag, jemanden an einem Fenster vorbeigehen zu sehen, aber sobald sie genauer hinschaute, war die Gestalt fort – eine flüchtige Silhouette in einer Burg voller Schatten.
Hoch über der Befestigungsmauer ragten vier gewaltige Türme – jeder schöner und prächtiger als der andere – bis in die am Himmel dahinziehenden Wolken auf. Oben flatterte jeweils eine große, blutrote, mit Gold bestickte Flagge im wilden Wetter.
Morag sog scharf die Luft ein. Solche Burgen hatte sie bisher nur in ihrem Geschichtsbuch in der Schule gesehen. Hätte sie nicht so schreckliche Angst vor dem gehabt, was sie darin erwarten mochte, wäre sie sicher sehr neugierig gewesen.
So hielt sie verzweifelt nach irgendeiner Fluchtmöglichkeit Ausschau, aber die Mole wurde von Riesenwachen gesäumt, und der einzige Weg war der steile, schmale Pfad, der zur Burg hinaufführte. Ein Mann in einem Kapuzenumhang – der aus dem Restaurant – unterhielt sich am Ufer mit einer Gruppe von Wachen. Als Morag vorbeikam, drehte er sich um und zwinkerte ihr zu, aber sie ignorierte ihn, davon überzeugt, dass er irgendetwas mit ihrer gegenwärtigen misslichen Lage zu tun hatte.
Weitergedrängt von dem Riesenjungen, trottete Morag zum Tor hinauf.
»Henry?«, flüsterte sie, beinahe ohne die Lippen zu bewegen. »Henry, bist du da?«
»Ja«, flüsterte er ein wenig schläfrig zurück. »Sind wir schon angekommen? Ich kann nichts sehen.«
»Ja«, zischte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
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