Mord am Oxford-Kanal
Liverpool-London gekostet hätte? Er hatte keine Ahnung. Aber das ließ
sich herausfinden, es gab immer Leute, die solche Dinge wußten...
Vor seinem inneren Auge sah er
wieder die Malerei in der Kabine des Flußkahns vor sich, auf dem er damals
gefahren war: ein See, eine Burg, ein Segelboot und eine Bergkette, und das
alles in den traditionellen Farben Rot, Gelb, Grün. Wie mochte es sein, wenn
man nicht nur Stunden, sondern Tage hier verbringen mußte? Zu jener Zeit hatte
man Männer aus ganz England als Besatzung angeheuert: aus dem Industriegebiet
der Midlands, aus den Bergwerksdörfern um Coventry, Derby und Nottingham, aus
den Reihenhaussiedlungen am Bahnhof von Oxford. Die Kähne hatten Kohle, Salz,
Porzellan, landwirtschaftliche Produkte... und vermutlich noch anderes geladen. Was anderes? Und warum um alles in der Welt hatten zwei Männer der
Besatzung sich noch einen zweiten Namen zugelegt? Hatten sie sich schon vor dem
tragischen Tod von Joanna Franks etwas zuschulden kommen lassen? Oder hatte
jeder, der die Kanäle befuhr, zwei Namen? Einen «Künstlernamen» sowie einen,
der ins Taufregister eingetragen war? Jedes Gericht mußte doch bereits angesichts
der Tatsache dieser doppelten Namen so etwas wie ein Vorurteil gehabt haben
gegen solche... solche... schon gleich zu Anfang... Er wurde müde, zweimal
schon hatte er sich wieder hochgerappelt, nachdem ihm der Kopf auf die Brust
gesunken war.
Schwester Eileen Stanton trat
um neun Uhr abends ihren Dienst an, und als sie um neun Uhr fünfundvierzig nach
Morse sah, schlief er fest. Behutsam nahm sie ihm den Speisezettel aus der Hand
und legte ihn auf den Nachttisch. Vermutlich träumte er, dachte sie, von einem
Menü in Les Quat’ Saisons, doch sie würde ihn bald wecken müssen, denn er
sollte noch seine Abendtabletten einnehmen.
Kapitel
9
Wie
erfreulich und angenehm ist doch die Welt der Bücher, vorausgesetzt, man betritt
sie nicht belastet mit den Verpflichtungen eines Studenten oder in der
Erwartung, hier von der Langeweile erlöst zu werden, sondern mit der
Begeisterung eines wahren Entdeckungsreisenden.
David
Grayson, Adventures in Contentment
Der folgende Morgen (es war
inzwischen Mittwoch) brachte für Morse eine Reihe angenehmer Neuerungen. Violet
servierte ihm zum Frühstück zwar Bran Flakes, halbverbrannten kalten Toast und
lauwarmen Tee, doch Morse nahm alles mit großer Begeisterung zu sich. Gegen
zehn Uhr kam Susi, um ihn von seiner Kochsalzinfusion zu erlösen, und Morse
hatte deutlich das Gefühl, daß ihm die Götter wieder wohlgesonnen waren. Als er
zum erstenmal ohne den lästigen Tropf den Korridor hinunter zum Waschraum ging,
verglich er sich in Gedanken mit dem gerade aus dem Kerker entlassenen
Florestan (Fidelio, 2. Akt). Beim Waschen genoß er das ungewohnte Gefühl, die
Arme frei bewegen zu können, und auch das Rasieren würde von jetzt ab wieder
leichter und besser gehen. Bei seiner Entlassung, so beschloß er, würde er den
Schwestern ein angemessenes, nicht zu aufwendiges Geschenk machen und darüber
hinaus seine Lieblingsschwester (entweder Susi oder Eileen, das war noch nicht
entschieden) in ein griechisches Restaurant in Nordoxford einladen, wo er dann
Gelegenheit haben würde, seine (ziemlich eingeschränkten) Griechischkenntnisse
zur Geltung zu bringen. Er würde ein Mezéthes-Tavérnas-Menü bestellen, das auf
der Karte als ein «epikureischer Genuß vom ersten bis zum letzten Bissen»
angepriesen wurde. Ungefähr zehn Pfund pro Person, schätzte er, vielleicht auch
ein bißchen mehr, plus der Kosten für Wein, Kaffee und vielleicht auch Likör —
mit dreißig Pfund, so hoffte er, würde er auskommen... Eileen hatte heute nacht
dienstfrei. Häusliche Verpflichtungen, hatte sie gesagt. Was sie wohl damit
meinte? Morse war irritiert. Er hoffte nur, daß nicht ausgerechnet Nessie für
sie den Dienst übernommen hatte, denn er hatte vor, heute nacht den goldenen
Verschluß von der Flasche Bell’s aufzuschrauben...
Wieder in seinem Bett im
Krankensaal, verging die Zeit wie im Fluge. Gegen halb elf wurde ihm eine Tasse
Bovril serviert, und anschließend lauschte er neuen Lobreden von Walter
Greenaway auf die großartigen Fähigkeiten seiner Tochter. Wenn man seinen
Worten Glauben schenken durfte, so wäre die Bibliothek ohne sie nicht in der
Lage gewesen, auch nur eine ihrer Funktionen im Dienste der Wissenschaft
ordentlich zu erfüllen. Kaum war Greenaway erschöpft eingeschlafen, erschien
eine der
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