Mord am Oxford-Kanal
Handlungen
irrational und unvorhersehbar waren. Aber die Männer von der Barbara Bray waren keine Psychopathen gewesen. Und hinzu kam, daß sie — und das kam Morse
nun wirklich sehr, sehr merkwürdig vor — , nachdem sie — so jedenfalls
behauptete es die Anklage — Joanna umgebracht hatten, daß sie also nach der
Tat, einen Tag und sogar mehr als einen Tag danach, noch immer tranken und
außerdem Joanna noch immer mit aller Inbrunst zum Teufel wünschten. Morse hatte
viele Mörder kennengelernt, aber nicht einer von ihnen hatte nach dem Verbrechen
ein ähnliches Verhalten an den Tag gelegt — und nun gleich vier? Nein, irgend
etwas stimmte einfach nicht, die Dinge paßten nicht zusammen. Aber war das
jetzt eigentlich noch wichtig — nach so vielen Jahren?
Morse griff gedankenverloren
nach einem der beiden Bücher, die ihm noch geblieben waren, und zwar nach der
dickleibigen Studie über Verbrechen und ihre Bestrafung, durchgeführt anhand
von Akten der Grafschaft Shropshire und schlug mehr aus Langeweile das
Ortsregister auf. Zufällig blieb sein Blick an der Eintragung «Shropshire Union
Canal (The)» hängen. Noch immer ziemlich unlustig blätterte er zur angegebenen
Seite zurück und begann den entsprechenden Abschnitt zu lesen. Von Zeile zu
Zeile wuchs sein Interesse (vielen Dank auch, Mrs. Lewis!). Der Verfasser
schrieb zwar einen ziemlich verquasten Stil, offenbar gehörte er zu der Sorte
Leute, die, wenn sie einen Spaten meinen, von einem «Arbeitsgerät mit breitem
stählernem Blatt» sprechen müssen. Die Aussagen des Textes waren dennoch klar
genug:
Bei
der großen Zahl von Verbrechen, die an und auf dem Kanal begangen werden, kann
es kaum überraschen, wenn wir auf seiten der Schiffer ein gerütteltes Maß an
Undurchsichtigkeit feststellen können, was das Registrieren von Namen angeht,
und zwar sowohl die der Kähne, auf denen sie fahren, als auch ihre eigenen.
Besonders im Hinblick auf letzteres haben wir feststellen müssen, daß viele der
Männer, die den Kanal befahren beziehungsweise auf einer der Werften entlang
des Kanals arbeiten, zwei Namen haben und oft unter ihrem zweiten, angenommenen
Namen besser bekannt sind als unter ihrem ursprünglichen. Aus verschiedenen
soziologischen Gründen (von denen einige noch zur Analyse anstehen) kann mit
großer Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, daß Schiffer im allgemeinen
prädisponiert sind zum Verbrechen, und mit Sicherheit läßt sich behaupten, daß
ihr Beruf (wenn man ihre Tätigkeit denn einen Beruf nennen will) ihnen günstige
Gelegenheiten bietet, diese Dispositionen zu realisieren. So verkaufen sie mitunter
einen Teil ihrer Ladung, zum Beispiel Kohlen, und ersetzen sie durch dieselbe
Menge Geröll oder Steine; des öfteren wurden auch schon Klagen laut über
Bootsleute, die von ihrer Wein- beziehungsweise Whiskyladung einige Flaschen
abzweigen und die leeren Flaschen hinterher mit Wasser auffüllen. (Siehe dazu
auch den Bericht der Kommission für Kanäle und schiffbare Wasserwege von
1942, Band 9, S. 61-64, 72-75, 83-86 et passim.) Leider muß man sagen,
daß auch Zollbeamte sich mitunter in die illegalen Geschäfte mit hineinziehen
lassen, indem sie gegen eine gewisse Bestechungssumme die Augen vor dem üblen
Treiben verschließen...
Morse wurden die Lider schwer,
und er legte das Buch beiseite. Wichtig war: Unter Bootsleuten gab es viele mit
kriminellen Neigungen, die sich auch schon einmal an ihrer Ladung vergriffen.
Jetzt wußte er also, warum Walter Towns ein Alias besaß, alles ganz einfach,
wenn man die Antwort einmal hatte. Vielleicht würde es eines Tages auf alle
Fragen eine Antwort geben, würden sich alle Probleme, mit denen sich unzählige
Generationen von Denkern und Philosophen herumgeschlagen hatten, dadurch lösen
lassen, daß man in der großen himmlischen Computer-Bibliothek einfach die
entsprechenden Daten abrief.
Der Junge mit der tragbaren
Kochsalzinfusion kam herein, nickte Morse kurz zu, griff sich von irgendwoher
die Fernbedienung und begann in schneller Folge einen Kanal nach dem anderen zu
wählen. Es war Zeit, daß er zurückkam auf die Station, dachte Morse.
Beim Hinausgehen ließ er ganz
automatisch seinen Blick über die Reihen der Bücher schweifen. Plötzlich blieb
er stehen. Auf dem untersten Brett standen, gleich nebeneinander, zwei Bücher,
die ihn sehr interessierten, der Titel des einen lautete Viktorianisches
Banbury, der des anderen OXFORD (Nr. 11 der Reihe Bahnknotenpunkte).
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