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Mord am Oxford-Kanal

Mord am Oxford-Kanal

Titel: Mord am Oxford-Kanal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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seiner Sünden ledig ist.
    Alle vier Seiten des
Fernsehgeräts waren gleichermaßen glatt und abweisend, ohne irgendeinen Knopf,
Schalter oder auch nur eine Einbuchtung, die darauf hingedeutet hätte, daß
dieses Gerät irgendwie in Betrieb genommen werden könnte, und so setzte Morse
sich nach einigen Momenten des Überlegens resigniert in einen Sessel und dachte
über den Fall Joanna Franks nach.
     
     
    Die Frage der Geschworenen war
natürlich nicht gewesen: «Wer hat das Verbrechen begangen?», sondern nur:
«Haben die Angeklagten es begangen?» Für einen Polizeibeamten hatte aber
natürlich die erste Frage Vorrang. So fiel es ihm, während er in dem leeren
Aufenthaltsraum saß, auch nicht allzu schwer, sich ohne Vorbehalte zu
überlegen: «O.k., wenn es die Schiffer nun nicht waren, wer dann?» Wenn sich
ein Schwurgericht dieser Frage stellen würde, müßten sie den Prozeß gleich
einstellen, dachte Morse. Er selbst jedenfalls hätte nicht zu sagen gewußt, wer
außer den Schiffern für den Mord an Joanna in Frage gekommen wäre. In dieser
Richtung zu denken hatte also wenig Sinn. Was er tun konnte, war, sich Gedanken
zu machen über die tatsächliche Schuld der Bootsleute. Oder ihre Unschuld...
    Viele Fragen fielen ihm ein.
    Erstens: Traf es zu, daß die
Geschworenen zu der Überzeugung hatten gelangen können, daß die Schiffer mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Joanna Franks ermordet hatten?
Antwort: Nein. Die Staatsanwaltschaft hatte nicht einen durch Zeugen erhärteten
Beweis erbringen können, daß sie den Mord begangen hatten — und wegen nichts
anderem waren sie ja angeklagt.
    Zweitens: Galt eigentlich für
die Angeklagten vor diesem Gericht jene seit alten Zeiten bewährte
«Unschuldsvermutung», die doch als Krönung des britischen Rechtssystems
angesehen wurde? Antwort: Nein, ganz sicher nicht. Im Gegenteil. Vorgefaßte
Meinungen — und zwar negative — waren schon beim ersten Prozeß von Beginn an
spürbar gewesen, und die Vertreter der Justiz hatten ihren Abscheu gegenüber
der ungehobelten, ungebildeten und irreligiösen Mannschaft der Barbara Bray kaum weniger deutlich bekundet als die sensationslüsternen Zuhörer.
    Drittens: Traf es zu, daß die
Schiffer sich, wenn auch nicht des Mordes, so doch vielleicht einer anderen
Straftat schuldig gemacht hatten? Antwort: Ja, mit ziemlicher Sicherheit. Und
ironischerweise vermutlich genau der beiden Straftaten, die als Anklagepunkte
beim zweiten Prozeß fallengelassen worden waren — Notzucht und Diebstahl.
Dafür, daß die Schiffer Joanna Franks nachgestellt hatten, gab es mehr als
genug Zeugenaussagen, die dies belegten. Und es war doch durchaus vorstellbar, daß
alle drei — vielleicht sogar alle vier — Joanna gezwungen hatten, ihnen zu
Willen zu sein.
    Viertens: Gab es so etwas wie
ein Gefühl — selbst wenn die Beweise an sich unzureichend schienen, selbst wenn
die Geschworenen Vorurteile gehabt hatten — , daß ihr Spruch trotzdem
angemessen war, «sicher», wie manche juristischen Handbücher es zu nennen
pflegen? Antwort: Nein, und abermals nein. Einen Moment lang hatte Morse den
Eindruck, als ließe sich sein diffuses Unbehagen jetzt präzisieren. Es hatte
auf jeden Fall irgend etwas zu tun mit dieser Vielzahl von Unterhaltungen, über
die vor Gericht ausgesagt worden war, Unterhaltungen zwischen der Mannschaft
und Joanna, zwischen der Mannschaft und anderen Bootsleuten, zwischen der
Mannschaft und verschiedenen Schleusenwärtern, Kaimeistern und Polizisten — und
irgendwie hatten sie alle falsch geklungen, jedenfalls wenn man davon ausging,
daß sie tatsächlich unschuldig waren. Es war, als hätte man einem unerfahrenen
Dramatiker ein Mordszenario geliefert, und der arme Mann hätte sich nun
darangesetzt und Seite um Seite unpassende, irreführende und sich zum Teil
offen widersprechende Dialoge geschrieben. Denn da gab es in den vor Gericht in
aller Ausführlichkeit wiedergegebenen Unterhaltungen Momente, da erschein
Joanna plötzlich wie der Racheengel persönlich, und die Mannschaft wirkte
plötzlich eher als das Opfer ihrer tödlichen Macht. Ein anderes solch
widersprüchliches Element war das Verhalten von Oldfield und Musson nach dem Mord. Morse jedenfalls fand es ungewöhnlich und fragte sich, warum ihre
Verteidiger nicht versucht hatten, dem Richter und den Geschworenen
klarzumachen, wie unwahrscheinlich ihr Verhalten gewesen war — wenn sie
tatsächlich die Täter waren. Natürlich gab es Psychopathen, deren

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