Mord am Oxford-Kanal
waren sie, wie immer um diese Zeit, sehr beschäftigt
(zwei Schwestern waren heute morgen ohnehin neu auf der Station), und Morse
begriff, daß er nur ein Patient unter vielen gewesen war und jetzt, da er
wieder gesund war, nicht mehr viel Aufmerksamkeit beanspruchen konnte. Eileen
hatte wieder Nachtschicht, so daß er sie sowieso nicht mehr sehen würde, und
auch die Oberschwester war gerade nicht in der Nähe, als es soweit war und ein
fröhlicher junger Hilfspfleger mit Bürstenhaarschnitt und Ohrringen ihn im
Rollstuhl aus dem Saal schob. Nur Fiona konnte er durch die angelehnte Tür des
Nebensaales kurz noch zunicken, sie saß neben einem sehr alten Patienten und
hielt ihm geduldig einen Spucknapf unter den sabbernden Mund. Mit ihrer freien
Hand winkte sie ihm zu und formte stumm die Worte «Viel Glück», aber Morse
verstand nicht, was sie ihm sagen wollte, und dann hatte ihn der Pfleger auch
schon aus der Stationstür hinaus ins Treppenhaus geschoben. Der Fahrstuhl war
wie immer nicht da.
Kapitel 30
Lente
currite, noctis equi!
(O
trabt langsam, ihr Pferde der Nacht!)
Ovid, Liebesgedichte
Obwohl Mrs. Green die
Zentralheizung in einem Teil der Räume angelassen hatte, empfand Morse bei
seiner Rückkehr die Wohnung als kalt und abweisend. Er hätte sich gewünscht,
daß irgend jemand dagewesen wäre, ihn willkommen zu heißen, am liebsten
Christine, aber auch über Eileens oder Fionas Anwesenheit hätte er sich
gefreut, und selbst die Oberschwester wäre ihm recht gewesen. Doch die Wohnung
war leer. Lewis war in den letzten Tagen nicht mehr dagewesen, und so zog Morse
zwei Weihnachtskarten, einen Brief von seiner Versicherung und seine beiden
Sonntagszeitungen aus dem Briefkasten. Die Wahl der beiden Sonntagszeitungen —
mochten die Namen auch manchmal wechseln — widerspiegelten unweigerlich Morses
Konflikt zwischen seinem Interesse an Kultur auf der einen und seinem Hunger
nach Sex auf der anderen Seite. Oder heute konkret zwischen: Synode in
Streit über Trennung von Kirche und Staat und Sex-Sklavins sechswöchige
Tortur in seidenbespanntem Sarg. Morse entschied sich (wie meistens)
zunächst für das Sex-Blatt, und er rechtfertigte seine Entscheidung damit, daß
sie immerhin die phantasievolleren Schlagzeilen hätten. Genüßlich betrachtete
er eine Weile die Fotos von großbusigen Schönen und las durchaus interessiert
einen Artikel über den neuesten Eheskandal in Hollywood. Dann klappte er das
Heft zu, stand auf und machte sich eine Tasse Instantkaffee (der ihm
tatsächlich viel besser schmeckte als der «richtige» gefilterte) und
informierte sich anhand der zweiten Zeitung über die Fluktuation auf den
Aktienmärkten der Welt und die tristen Aussichten für die Millionen Hungernden
und Kranken in der Dritten Welt.
Um halb fünf Uhr klingelte das
Telefon, und Morse wußte, daß er, wenn er nur einen Wunsch frei hätte, sich
wünschen würde, es möge Christine sein.
Sie war es.
Und nicht nur hatte sie das
seltene (und deshalb entsprechend wertvolle) Buch, das ausfindig zu machen
Morse sie gebeten hatte, tatsächlich aufgetrieben, sie hatte sich sogar die
Zeit genommen («das dürfen Sie ab er keinem verraten!»), sich die
entsprechenden Seiten durchzulesen, und dabei hatte sie entdeckt («ich hoffe,
Sie sind jetzt nicht zu enttäuscht»), daß Samuel Carter dem Gespräch mit dem
alten Walter Towns über den Prozeß nur ein sehr kurzes Kapitel von wenigen
Seiten eingeräumt hatte.
«Aber nein, ich bin gar nicht
enttäuscht», sagte Morse. «Von wo aus rufen Sie an?»
«Von... äh... von zu Hause.»
(Warum das Zögern, dachte Morse erstaunt.)
«Wäre es möglich...»
«Hören Sie», unterbrach sie ihn
beinahe schroff. «Ich habe von dem Kapitel eine Fotokopie gemacht. Soll ich sie
mit der Post schicken? Oder vielleicht könnte ich...»
«Könnten Sie es mir nicht ganz
schnell vorlesen? Sie haben doch gesagt, es wären nur ein paar Seiten.»
«Ich bin keine gute
Vorleserin.»
«Legen Sie auf, ich rufe Sie
gleich wieder zurück. Dann können wir so lange miteinander reden, wie wir
wollen», schlug er vor.
«Also das Telefongespräch werde
ich mir schon noch leisten können», sagte sie etwas pikiert.
«Na gut, dann schießen Sie
los.»
«Es fängt an auf Seite 187.
Sind Sie bereit?»
«Ja.»
Unter
den Leuten, denen ich in den letzten Monaten des Jahres 1884 in Perth
begegnete, war auch ein gewisser Walter Towns. Er besaß eine Art lokaler
Berühmtheit, und
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