Mord am Oxford-Kanal
dies erschien mir, als ich ihn kennenlernte, zunächst ziemlich
unerklärlich, da ich nicht verstand, wieso dieser ziemlich, nein, ganz und gar
heruntergekommene Mann derart bekannt war. Er war sehr klein, nur circa einen
Meter fünfzig groß, und von hagerem Aussehen. Seine Wangen waren von den Augen
bis in Mundhöhe von tiefen Furchen durchzogen, und der elende Eindruck, den er
machte, wurde noch verstärkt dadurch, daß er sehr blaß war, und das, obwohl die
Sonne in dieser Gegend sehr kräftig scheint. Hinzu kam ein gewisser Eindruck
von Hohlwangigkeit, der dadurch hervorgerufen wurde, daß ihm sämtliche Zähne im
Oberkiefer fehlten. Seine Augen jedoch verrieten eine — wenn auch beschränkte — Intelligenz und zeigten darüber hinaus einen Ausdruck von Schwermut, als
verfolge ihn die Erinnerung an gewisse Dinge, die früher in seinem Leben
geschehen waren — schlimme Dinge. Tatsächlich weist die Geschichte dieses
Mannes Züge eines Melodramas auf, wie es jeder Autor seinen Lesern nur zu gern
präsentiert: Towns war nur Minuten, bevor er durch den Strick hingerichtet
werden sollte, dem drohenden Tod durch eine Begnadigung entkommen. Nachdem ich
das erfahren hatte, interessierte mich seine Geschichte natürlich sehr, und er
gab mir bereitwillig Auskunft.
Im Jahr 1860 war in der Nähe
von Oxford eine junge Frau ermordet worden, und der Verdacht richtete sich
sogleich gegen die Besatzung eines Kahnes, auf dem sie als Passagier
mitgefahren war. Der Kahn war unterwegs gewesen nach London. Die Mannschaft,
darunter Towns selbst und ein vierzehnjähriger Junge, wurde verhaftet und vor
Gericht gebracht. Während der Junge freigesprochen wurde, wurden die anderen
Männer für schuldig befunden und zum Tode durch den Strang verurteilt. Am Tage
der Hinrichtung, wenige Minuten nachdem der Gefängnisgeistliche ihnen den
letzten Besuch abgestattet hatte, erhielt Towns überraschend die Mitteilung, daß er begnadigt worden
sei. Nur wenige Menschen, denke ich, erfahren in ihrem Leben innerhalb weniger
Minuten einen derartigen Umschwung des Schicksals. Insgesamt gesehen erwies
sich jedoch mein Gespräch mit Walter Towns als eher enttäuschend. Erstens war
er, was man ihm nicht vorwerfen kann, nicht sehr wortgewandt, und zweitens auch
noch sehr schlecht zu verstehen. Sein ursprünglicher Dialekt (West Country, wie
ich gleich herausgehört hatte) wurde stark überlagert von australischem
Englisch, so daß ich häufig nicht begriff, wovon er sprach. Mein Eindruck war,
daß ich hier einen Menschen vor mir hatte, der den Schwierigkeiten des Lebens
wohl kaum gewachsen sein dürfte — das heißt, des Lebens als freier Mann. Denn
nachdem Towns fünfzehn Jahre Zwangsarbeit im Gefängnis von Longbay abgeleistet
hatte, war er in der Tat genau das: ein freier Mann. Aber auch ein seelisch
gebrochener Mann, von schwerfälligem Verstand und vor den Jahren gealtert (er
war erst siebenundvierzig!), ein ehemaliger Langzeit-Sträfling (hier in
Australien nannte man sie «Kriecher»), der im Angesicht der drohenden
Hinrichtung unaussprechliche Qualen durchlebt haben mußte, die ihn wohl für
immer gezeichnet hatten.
Was Einzelheiten über die
letzten schrecklichen Stunden vor der Hinrichtung anging, so war er eher
wortkarg, doch ein paar Dinge, die er mir mitteilte, mögen für den Leser
durchaus von Interesse sein. So erhielten die Delinquenten am Morgen des
Exekutionstages eine üppige Mahlzeit, die aus Lammbraten und verschiedenen
Gemüsen bestand, und Towns meinte sich sogar erinnern zu können, daß sie das
gleiche oder aber ein ähnliches Frühstück an allen vorherigen Tagen erhalten
hätten, und zwar seitdem der Zeitpunkt für die Hinrichtung festgesetzt worden
war. Am schlimmsten war nach seinen eigenen Worten für ihn, daß er seine Mannschaftskameraden
die ganze Zeit über nicht sehen durfte, und unter dieser, wie er es nannte, « Entbehrung » scheint
er unsäglich gelitten zu haben. Ob er in der Nacht, von der er annehmen mußte,
daß es seine letzte sein würde, gar nicht oder nur wenig geschlafen hatte,
daran konnte er sich nicht mehr genau erinnern, auch nicht, ob er um die
Vergebung seiner Sünden gebetet hatte oder gar um Rettung. Die plötzliche
Begnadigung jedenfalls empfand er noch jetzt — vierundzwanzig Jahre später -
als ein Wunder!
Überraschenderweise war es
nicht der Gedanke an das Gehängtwerden selbst, der Towns am meisten gequält
hatte, sondern die Vorstellung, Mittelpunkt eines öffentlichen Spektakels
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