Mord am Oxford-Kanal
zu
sein. Was er wohl am meisten gefürchtet hatte, war die Abscheu der Menge und die
Schande, die ein solcher Tod bedeutete. Diese Furcht mag der Grund sein, daß
viele der Unglückseligen zum Zeitpunkt der Hinrichtung die Kraft aufbringen,
ihre letzten, todbringenden Schritte mit einer Gefaßtheit und Tapferkeit hinter
sich zu bringen, die selbst noch dem mitleidlosesten Zuschauer zumindest
Achtung abnötigen muß.
Was
das eigentliche Verbrechen anging, so behauptete Towns, unschuldig zu sein,
eine Behauptung, die, wie wir beim Studium der Kriminalarchive leicht
feststellen können, nicht immer zutreffen muß. Seine Erinnerung an die Fahrt
mit dem Kahn und besonders an die junge Frau, ihr Name lautete Joanna Franks,
war überaus lebendig und präzise. Die junge Frau hatte offenbar auf ihn großen
Eindruck gemacht, und es kann kaum überraschen, daß auch die anderen Männer auf
dem Kahn sich von ihr angezogen fühlten und es bei mehreren Gelegenheiten zum
offenen Ausbruch von Eifersucht zwischen ihnen kam. Towns erinnert sich, daß
einmal zwei Männer (die beiden, die später gehängt wurden) so heftig wegen
Joanna in Streit gerieten, daß einer von ihnen sogar das Messer zog! Wenn man
Towns Glauben
schenken darf, sei sogar der
junge Harold Wootton wie verhext von ihr gewesen, und man darf annehmen, daß
die um viele Jahre ältere und auch sehr viel erfahrenere Frau seine Gefühle
auszunutzen verstand. Übrigens beteuerte Towns, daß er mit Joanna nichts im
Sinn gehabt habe, und so wie er das sagte, schien er mir auch glaubwürdig.
Eine
interessante Anfügung wäre noch zu machen. Im ersten Prozeß glaubte die Staatsanwaltschaft
mit einer Anklage wegen Vergewaltigung und Diebstahls mehr Aussicht auf Erfolg
zu haben als mit einer Mordanklage. Doch beim zweiten Prozeß wurde dann doch
wegen Mordes angeklagt. Eine Anklage wegen eines geringfügigeren Delikts
fallenzulassen, wenn man glaubt, sichere Beweise für das schwerere Verbrechen
zu besitzen, ist ein durchaus gängiges Verfahren. Möglicherweise war das der
Grund, daß Towns sich äußerst gesprächig zeigte, was den Diebstahl anging. Das
heißt, er ließ durchblicken, daß er dem jungen Wootton einen Diebstahl schon
zugetraut hätte, nicht jedoch eine Vergewaltigung. Und im übrigen, so möchte
der Verfasser hinzufügen, gab es natürlich damals wie heute entlang des Kanals
mehr als genug Möglichkeiten für die Schiffer, ihre sexuellen Wünsche zu
befriedigen.
«So», sagte Christine, «das
wär’s. Ich stecke es noch heute in den Kasten, dann haben Sie es vielleicht
morgen früh schon.»
«Könnten Sie jetzt nicht gleich
vorbeikommen und es bringen?»
«Mein Leben ist... äh... im
Moment ein wenig hektisch», sagte sie nach einer kurzen, verlegenen Pause.
«Na schön.» Mehr brauchte sie
ihm nicht zu sagen. Er hatte verstanden, daß, bildlich gesprochen, die
Wassertemperatur zu kalt war für ein Bad zu zweit.
«Sehen Sie», sagte sie, «ich...
ich lebe mit jemandem zusammen...»
«Und dieser Jemand ist der
Meinung, daß Sie nicht Ihre ganze Zeit damit verschwenden sollten, mir zu
helfen.»
«Ich habe dauernd von Ihnen
gesprochen», sagte Christine leise.
Morse schwieg.
«Ist Ihre Adresse noch dieselbe
wie im Telefonbuch?» erkundigte sie sich.
«Ja.»
«Sie sind als E. Morse
eingetragen. Ich würde gerne wissen, wofür das E. steht.»
«Ach, das ist nicht so wichtig.
Ich werde sowieso von allen bei meinem Nachnamen genannt.»
«Sie werden mich nicht
vergessen?» sagte sie.
«Versuchen werde ich es sicher,
aber ich bezweifle, daß es mir gelingt.»
Nachdem Morse aufgelegt hatte,
blieb er noch ein paar Minuten nachdenklich neben dem Telefon sitzen. Dann fiel
ihm wieder Samuel Carters Bericht über sein Gespräch mit Towns ein, und er
wunderte sich, wie einem doch offenbar kompetenten Mann wie ihm im Verlauf nur
weniger Seiten so viele Fehler unterlaufen konnten: Das Jahr, in dem der Mord
geschehen war, war falsch angegeben, Towns’ Dialekt hatte er ebenfalls nicht
richtig eingeordnet (Towns stammte aus Oxfordshire), die Angabe des Alters
stimmte nicht (Towns mußte 1884 Anfang Fünfzig gewesen sein), und Woottons
Vorname lautete nicht Harold, sondern Thomas... Merkwürdig! Aber was seine,
Morses Phantasie über den Tathergang anging, da hatte er doch vielleicht gar
nicht so falsch gelegen, jedenfalls was die Messerstecherei aus Eifersucht
anging. Nur daß nicht Towns das Messer gezückt hatte, sondern Oldfield
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