Mord im Pfarrhaus
Quatsch. Warum sollte ein Mann den Konsequenzen seiner Taten entkommen, nur weil er über Frau und Kinder jammert? Mir ist das alles gleich – egal was ein Mann ist, Arzt, Anwalt, Pfarrer, Wilddieb, besoffener Tunichtgut – wenn man ihn auf der falschen Seite des Gesetzes erwischt, soll das Gesetz ihn bestrafen. Sie sind doch sicher meiner Meinung.»
«Sie vergessen», sagte ich, «dass mein Beruf mich dazu verpflichtet, einen Wert über alle anderen zu stellen – den Wert der Gnade.»
«Nun, ich bin ein gerechter Mann. Das kann niemand bestreiten.»
Ich schwieg, und er sagte scharf: «Warum antworten Sie nicht? Ich wüsste gern, was Sie denken, Mann.»
Ich zögerte, dann entschloss ich mich zu reden. «Ich dachte gerade, wenn mein letztes Stündlein schlägt, würde ich es bedauern, als Einziges zu meinen Gunsten die Gerechtigkeit vorzubringen. Denn das könnte bedeuten, dass auch mir nur Gerechtigkeit zugemessen wird…»
«Pah! Was wir brauchen, ist ein bisschen militantes Christentum. Ich hoffe doch, dass ich immer meine Pflicht getan habe. Nun, genug davon. Ich komme, wie angekündigt, heute Abend vorbei. Sagen wir Viertel nach sechs statt sechs, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich muss noch einen Mann im Dorf aufsuchen.»
«Das passt mir sehr gut.»
Er schwang seinen Stock und schritt davon. Als ich mich umdrehte, prallte ich mit Hawes zusammen. Ich fand, dass er heute Morgen ausgesprochen krank aussah. Ich hatte ihn wegen verschiedener Angelegenheiten auf seinem Gebiet, die vermasselt oder aufgeschoben worden waren, rügen wollen, aber als ich sein weißes, angespanntes Gesicht sah, hatte ich das Gefühl, dass der Mann litt.
Ich sagte so etwas und er stritt es ab, doch nicht sehr heftig. Schließlich gestand er, dass er sich nicht allzu wohl fühle, und schien meinen Rat, sich ins Bett zu legen, annehmen zu wollen.
Ich aß eilig zu Mittag und machte dann einige Hausbesuche. Griselda war mit dem billigen Donnerstagszug nach London gefahren.
Um Viertel vor vier kam ich nach Hause und wollte das Konzept meiner Sonntagspredigt skizzieren, doch Mary sagte, dass Mr Redding im Arbeitszimmer auf mich warte.
Er ging mit besorgter Miene auf und ab. Er sah blass und verhärmt aus und drehte sich abrupt um, als ich hereinkam. «Hören Sie, Sir. Ich habe nachgedacht über das, was Sie gestern sagten. Ich hatte deshalb eine schlaflose Nacht. Sie haben Recht. Ich muss auf und davon.»
«Mein lieber Junge», sagte ich.
«Was Sie über Anne gesagt haben, war richtig. Wenn ich bleibe, hat sie meinetwegen nur Schwierigkeiten. Sie – sie ist zu gut für alles andere. Ich sehe ein, dass ich gehen muss. Ich habe schon jetzt die Situation schwer genug für sie gemacht, der Himmel stehe mir bei.»
«Ich finde, Sie haben die einzig mögliche Entscheidung getroffen», sagte ich. «Sie ist schwer, ich weiß, aber glauben Sie mir, sie wird letzten Endes zum Besten dienen.»
Er dachte offenbar, dass sich das leicht sagen ließ von jemandem, der nicht wusste, wovon er sprach.
«Sie werden sich um Anne kümmern? Sie braucht einen Freund.»
«Sie können sicher sein, dass ich alles tue, was in meiner Macht steht.»
«Danke, Sir.» Er drückte mir die Hand. «Sie sind ein guter Mensch, Padre. Ich werde ihr heute Abend Lebewohl sagen, und morgen werde ich wahrscheinlich packen und abreisen. Es hat keinen Sinn, den Schmerz zu verlängern. Danke, dass ich in Ihrem Schuppen malen durfte. Es tut mir Leid, dass ich mit Mrs Clements Porträt nicht fertig geworden bin.»
«Machen Sie sich deshalb keine Sorgen, mein lieber Junge. Lebewohl, und Gott segne Sie.»
Als er gegangen war, versuchte ich mich auf meine Predigt zu konzentrieren, aber mit sehr wenig Erfolg. Unentwegt dachte ich an Lawrence und Anne Protheroe.
Ich trank eine ziemlich ungenießbare Tasse Tee, kalt und schwarz, und um halb sechs klingelte das Telefon: Mr Abbott von der Lower Farm lag im Sterben, ob ich bitte gleich kommen könnte.
Ich rief sofort Old Hall an, weil die Lower Farm fast zwei Meilen entfernt ist und ich bis Viertel nach sechs unmöglich zurück sein konnte. Ich habe es nie geschafft, Rad fahren zu lernen.
Man sagte mir jedoch, Colonel Protheroe sei gerade mit dem Wagen weggefahren. Also bat ich Mary ihm auszurichten, dass ich fort musste, aber versuchen würde, bis halb sieben oder kurz danach zurück zu sein.
Fünftes Kapitel
E s war fast sieben, als ich wieder ans Gartentor des Pfarrhauses kam. Bevor ich es erreicht hatte, schwang es
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