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Mord im Pfarrhaus

Mord im Pfarrhaus

Titel: Mord im Pfarrhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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Anne Protheroe und Lawrence Redding gut leiden. Warum dann diese düstere Stimmung?
    Mit Mühe raffte er sich auf. «Ich wollte Ihnen etwas über Hawes sagen. Diese ganze Angelegenheit hat ihn fast um den Verstand gebracht.»
    «Ist er wirklich krank?»
    «Grundsätzlich fehlt ihm nichts. Sie wissen natürlich, dass er Encephalitis Lethargica hatte, die Schlafkrankheit, wie sie fälschlicherweise gemeinhin genannt wird?»
    «Nein.» Ich war sehr überrascht. «Ich hatte keine Ahnung. Er hat mir nie etwas davon gesagt. Wann war das?»
    «Vor etwa einem Jahr. Er wurde wieder gesund – soweit man das je überwindet. Es ist eine seltsame Krankheit – mit einer merkwürdigen Nachwirkung. Die ganze Persönlichkeit kann sich dadurch verändern.»
    Er schwieg ein paar Minuten, dann sagte er: «Heute denken wir mit Entsetzen an die Zeit, in der wir Hexen verbrannt haben. Ich glaube, der Tag wird kommen, an dem wir schaudern bei dem Gedanken, dass wir je Verbrecher gehenkt haben.»
    «Sie glauben nicht an die Todesstrafe?»
    «Darum geht es eigentlich nicht.» Er überlegte. «Wissen Sie», sagte er langsam, «mein Beruf ist mir lieber als Ihrer.»
    «Warum?»
    «Weil Ihrer vor allem mit dem zu tun hat, was wir richtig und falsch nennen – und ich bin überhaupt nicht sicher, ob es so etwas gibt. Angenommen, das alles ist eine Frage der Drüsensekretion. Zu viel von einer Drüse, zu wenig von einer anderen – und schon haben sie Ihren Mörder, Ihren Dieb, Ihren Gewohnheitsverbrecher. Clement, ich glaube, eines Tages werden wir entsetzt an die langen Jahrhunderte denken, in denen wir Menschen wegen ihrer Krankheit bestraft haben – gegen die sie nichts machen können, die armen Teufel. Man henkt doch auch keinen Menschen, weil er Tuberkulose hat.»
    «Er ist auch nicht gefährlich für die Gemeinschaft.»
    «In gewissem Sinn doch. Er steckt andere Menschen an. Oder nehmen Sie einen Mann, der glaubt, er sei der Kaiser von China. Sie sagen nicht, wie boshaft von ihm. Ich bin Ihrer Ansicht, was die Gemeinschaft angeht. Die Gemeinschaft muss geschützt werden. Dann soll man diese Leute dort hinbringen, wo sie keinen Schaden anrichten – sie sogar friedlich aus dem Weg räumen – ja, so weit würde ich gehen. Aber dann darf man das nicht Strafe nennen. Und keine Schande über sie und ihre unschuldigen Familien bringen.»
    Ich sah ihn neugierig an.
    «So habe ich Sie noch nie reden hören.»
    «Gewöhnlich gehe ich mit meinen Theorien nicht hausieren. Heute reite ich mein Steckenpferd. Sie sind ein intelligenter Mensch, Clement, und das ist mehr, als man von manchen Pfarrern sagen kann. Sie werden zwar sehr wahrscheinlich nicht zugeben, dass es die so genannte ‹Sünde› nicht gibt, aber Sie sind tolerant genug, eine solche Möglichkeit zu bedenken.»
    «Das geht an die Wurzel aller geltenden Ideen», sagte ich.
    «Ja, wir sind ein engstirniger, selbstgerechter Haufen, nur zu begierig, Dinge zu beurteilen, von denen wir nichts verstehen. Ich glaube aufrichtig, dass Verbrechen eine Angelegenheit für den Arzt ist, nicht für den Polizisten und nicht für den Pfarrer. In der Zukunft wird es so etwas vielleicht nicht mehr geben.»
    «Weil es geheilt wird?»
    «Wir werden es heilen. Ein wunderbarer Gedanke. Haben Sie sich je mit Verbrechensstatistiken befasst? Nein – sehr wenige Menschen beschäftigen sich damit. Ich aber schon. Sie würden staunen, wie viele Verbrechen Heranwachsender es gibt, wieder die Drüsen, verstehen Sie. Der junge Neil, der Mörder aus Oxfordshire – tötete fünf kleine Mädchen, bevor er in Verdacht geriet. Ein netter junger Mann – hatte nie irgendwelchen Ärger gemacht. Lily Rose, das kleine Mädchen aus Cornwall – tötete ihren Onkel, weil er ihr Süßigkeiten wegnahm. Als er schlief, erschlug sie ihn mit einem Kohlehammer. Ging nach Hause und tötete vierzehn Tage später ihre ältere Schwester, die sie wegen irgendeiner Kleinigkeit geärgert hatte. Wurden natürlich beide nicht gehenkt. In ein Heim geschickt. Sind vielleicht später in Ordnung – vielleicht auch nicht. Bei dem Mädchen bezweifle ich es. Sie interessiert sich lediglich dafür, beim Schweineschlachten zuzuschauen. Wissen Sie, wann Selbstmord am häufigsten vorkommt? Zwischen fünfzehn und sechzehn. Vom Selbstmord zur Ermordung eines anderen ist kein sehr großer Schritt. Aber es ist kein moralischer Defekt – es ist ein physischer.»
    «Was Sie sagen, ist fürchterlich!»
    «Nein – es ist Ihnen nur neu. Mit neuen

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