Mord im Spiegel
Ich möchte mein Frühstück essen, solange es noch warm ist.«
»Ich hoffe, ich habe nichts vergessen«, sagte Miss Knight fröhlich. Sie hatte nichts vergessen. Der Tee schmeckte gut, das Ei hatte genau dreidreiviertel Minuten gekocht, der Toast war hellbraun, die Butter lag auf einem hübschen kleinen Teller neben einem kleinen Topf Honig. In mancher Beziehung war Miss Knight unbestreitbar ein Schatz. Miss Marple aß ihr Frühstück mit großem Vergnügen. Dann hörte sie das Brummen des Staubsaugers. Cherry war gekommen. Den Lärm des Staubsaugers übertönte eine frische klare Stimme, die den neuesten Schlager sang. Miss Knight, die eingetreten war, um das Tablett zu holen, schüttelte den Kopf.
»Ich finde wirklich, diese junge Person sollte nicht so laut singen, dass man es im ganzen Haus hört«, meinte sie. »Ich nenne so etwas respektlos.«
Miss Marple lächelte leise. »Cherry würde nie auf den Gedanken kommen, dass sie vor etwas oder jemand Respekt haben müsste. Warum auch?«
Miss Knight schniefte und sagte: »Ganz anders als in alten Zeiten.«
»Natürlich«, antwortete Miss Marple. »Die Zeiten ändern sich eben. Damit muss man sich abfinden.« Dann fügte sie hinzu: »Vielleicht könnten Sie Mrs Bantry jetzt anrufen und fragen, was sie wollte.«
Miss Knight verschwand. Ein paar Minuten später klopfte es an die Tür, und Cherry trat ein. Sie sah fröhlich und aufgeregt und sehr hübsch aus. Über ihr dunkelblaues Kleid hatte sie sich eine mit Matrosen und nautischen Symbolen kühn bedruckte Plastikschürze gebunden.
»Sie haben eine hübsche Frisur«, sagte Miss Marple.
»Ich war gestern beim Dauerwellenmachen«, sagte Cherry. »Noch etwas frisch, aber nach der ersten Wäsche wird es besser. Ich kam rauf, um zu erfahren, ob Sie schon das Neueste gehört haben.«
»Worüber denn?«
»Wegen ›Gossington Hall‹. Sie wissen doch, dass gestern dort ein großes Wohltätigkeitsfest stattfand?«
Miss Marple nickte. »Was ist passiert?«
»Jemand ist mittendrin gestorben. Eine gewisse Mrs Badcock. Sie wohnte bei uns nebenan. Ich glaube nicht, dass Sie sie kennen.«
»Mrs Badcock?«, rief Miss Marple aufgeregt. »Aber natürlich kenne ich sie! Ich erinnere mich – ja, das war der Name. Sie kam aus dem Haus und hob mich auf, als ich kürzlich stürzte. Sie war ganz reizend!«
»Ja, das sähe Heather Badcock ähnlich!«, sagte Cherry. »Überfreundlich, fanden die Leute. Sie würde sich in alles einmischen, sagten sie. Na, jedenfalls – sie ist tot. Einfach so!«
»Tot? An was ist sie gestorben?«
»Keine Ahnung«, antwortete Cherry. »Sie war ins Haus gebeten worden, sicherlich, weil sie die Sekretärin war. Sie und der Bürgermeister und noch eine Menge Leute. Sie hat etwas getrunken, und keine fünf Minuten später wurde ihr schlecht, und sie starb, ehe jemand überhaupt noch husten konnte.«
»Was für eine schreckliche Geschichte«, rief Miss Marple. »Hatte sie ein schwaches Herz?«
»Sie war angeblich kerngesund«, sagte Cherry. »Aber man weiß ja nie! Man kann was am Herzen haben, ohne dass man es ahnt. Jedenfalls – eines steht fest: Sie wurde nicht nachhause gebracht.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Miss Marple erstaunt.
»Ihre Leiche«, antwortete Cherry. Ihre gute Laune war unverwüstlich. »Der Doktor sagte, es sei eine Autopsie notwendig. Post mortem, oder wie das heißt. Sie war nicht bei ihm in Behandlung, und die Todesursache könnte man anders nicht feststellen. Ist doch seltsam«, fügte sie hinzu.
»Wieso seltsam?«
»Na ja.« Cherry überlegte. »Seltsam, weil man glauben könnte, dass mehr dahintersteckt.«
»War ihr Mann sehr aufgebracht?«
»Weiß wie die Wand! Ich habe noch nie jemanden erlebt, der so verstört ausgesehen hat.«
Miss Marple, die seit vielen Jahren daran gewöhnt war, auf die leisesten Zwischentöne zu achten, legte fragend den Kopf etwas schief wie ein kleiner Vogel. »Hat er sie so geliebt?«
»Er tat, was sie wollte, und ließ sie machen«, antwortete Cherry. »Aber das heißt noch lange nicht, dass er sie liebte. Es könnte auch sein, dass er eben nicht den Mut hatte, sich zu wehren.«
»Sie mochten sie nicht?«
»Ich kannte sie kaum«, erwiderte Cherry. »Sie war nicht mein Typ. Sie mischte sich zu viel ein.«
»Sie meinen, sie war neugierig und fragte viel?«
»Nein, das nicht. Sie war eine sehr freundliche Frau, die ständig irgendetwas für die Leute tat. Und sie war immer überzeugt, dass nur sie wusste, wie es am besten
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