Mord im Spiegel
sind mir ja eine ganz Gerissene! Ich begreife nicht, wie Sie auf so einen Einfall kommen konnten!«
»Offen gestanden«, sagte Miss Marple, »habe ich so etwas schon erwartet.«
»Was, tatsächlich?«, rief Miss Knight.
»Irgendjemand beobachtet immer etwas«, erklärte Miss Marple. »Nur dauert es manchmal etwas, bis sie die Bedeutung der Beobachtung begreifen. Wer ist es denn?«
»Der italienische Butler. Er wurde heute Nacht erschossen.«
»Ich verstehe«, sagte Miss Marple nachdenklich. »Ja, natürlich, sehr wahrscheinlich, aber ich hätte gedacht, dass er die Bedeutung schon früher erkannt haben würde…«
»Nein, wirklich!«, rief Miss Knight. »Sie reden, als ob Sie genau Bescheid wüssten. Warum hätte man ihn umbringen sollen?«
»Vermutlich versuchte er, jemanden zu erpressen.«
»Angeblich war er gestern in London.«
»Nein, so was!«, sagte Miss Marple. »Sehr interessant. Und sehr aufschlussreich, finde ich.«
Miss Knight verschwand in die Küche, weil sie sich von ihrem Plan, ein stärkendes Gebräu aus Milch und Ei herzustellen, nicht abbringen ließ. Miss Marple blieb nachdenklich sitzen, bis sie durch das laute Summen des Staubsaugers und Cherrys fröhliches Singen aus ihren Grübeleien gerissen wurde. Cherry sang ihren augenblicklichen Lieblingsschlager: »Ich sagte zu dir, und du sagtest zu mir…« Miss Knight steckte den Kopf zur Küchentür hinaus. »Bitte, Cherry, machen Sie nicht so viel Lärm«, rief sie. »Sie wollen doch die liebe Miss Marple nicht stören, nicht wahr? Sie dürfen nicht so rücksichtslos sein!«
Sie schloss wieder die Küchentür, während Cherry zu niemand im Besonderen sagte: »Und wer hat dir erlaubt, mich Cherry zu nennen, du altes Schreckgespenst?« Der Staubsauger brummte weiter, und Cherry sang dazu, wenn auch jetzt etwas leiser. Da hörte sie, wie Miss Marple nach ihr rief.
»Cherry, bitte kommen Sie einen Augenblick herein!«
Cherry stellte den Staubsauger ab und öffnete die Wohnzimmertür. »Ich wollte Sie mit meiner Singerei nicht stören, Miss Marple«, sagte sie.
»Ihr Gesang ist viel angenehmer als das schreckliche Dröhnen des Staubsaugers«, antwortete Miss Marple. »Aber ich weiß, dass man mit der Zeit gehen muss. Es wäre völlig sinnlos, einen von euch jungen Leuten zu bitten, lieber Besen und Schaufel zu benützen, wie man das früher gemacht hat.«
»Was – sich hinknien, mit Schaufel und Besen?« Cherry war verblüfft und entsetzt.
»Unerhört, ich weiß«, sagte Miss Marple. »Kommen Sie herein, und schließen Sie die Tür! Ich habe Sie gerufen, weil ich Sie ein paar Dinge fragen möchte.«
Cherry gehorchte und trat auf Miss Marple zu. Sie sah sie fragend an.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte Miss Marple. »Diese alte – ich meine, Miss Knight – kann jeden Augenblick mit der Milchmixtur hereinkommen.«
»Wird Ihnen sicher gut tun. Das kräftigt«, meinte Cherry aufmunternd.
»Haben Sie gehört«, fragte Miss Marple, »dass der Butler von ›Gossington Hall‹ heute Nacht erschossen wurde?«
»Was, der Italiener?«, rief Cherry.
»Ja. Sein Name ist Giuseppe.«
»Nein«, erwiderte Cherry, » davon habe ich nichts gehört. Man hat mir nur erzählt, dass Mr Rudds Sekretärin einen Herzanfall hatte, und jemand behauptet, dass sie schon gestorben ist – aber sicherlich ist das nur ein Gerücht. Wer hat Ihnen das mit dem Butler erzählt?«
»Miss Knight kam mit der Neuigkeit zurück.«
»Ich habe mich heute Vormittag noch mit niemandem unterhalten«, sagte Cherry, »ich kam direkt hierher. Inzwischen wird es sich wohl herumgesprochen haben. Er wurde also umgebracht?«, fragte sie.
»So heißt es«, sagte Miss Marple. »Ob zu Recht oder zu Unrecht, kann ich nicht beurteilen.«
»Was für ein schöner Raum dies ist, um sich zu unterhalten«, sagte Cherry. »Ob Gladys ihn vorher noch getroffen hat?«, fügte sie gedankenvoll hinzu.
»Wer ist Gladys?«
»Ach, eine Freundin von mir. Sie wohnt ein paar Häuser weiter und arbeitet in der Filmkantine.«
»Und sie hat mit Ihnen über Giuseppe gesprochen?«
»Also, es war so: Ihr war etwas Seltsames aufgefallen, und da wollte sie ihn fragen, was er davon hielt. Aber wenn Sie meine Meinung hören wollen – es war nur ein Vorwand, weil sie sich in ihn verliebt hatte. Er sah gut aus, und Italiener haben so eine Art… jedenfalls riet ich ihr, vorsichtig zu sein. Bei den Italienern weiß man nie.«
»Er ist gestern nach London gefahren«, sagte Miss Marple, »und kehrte erst
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