Mord in Babelsberg
Zeugin. Vielleicht – wahrscheinlich sogar – selbst ein Opfer. Schauen Sie sich die junge Frau an. Sie hat vermutlich Schreckliches erlebt. Wenn es nun mit unserem Fall zusammenhängt und sie zur Aufklärung beitragen kann? Wäre es nicht denkbar, dass es ihr Erleichterung verschafft, wenn sich die Schuldigen verantworten müssen? Wenn sie sieht, dass die Täter bestraft werden?« Er warf Robert einen auffordernden Blick zu.
»Herr Wechsler hat recht, Herr Dr. Hartung. Wir bekommen es bei der Arbeit oft mit Menschen zu tun, die Opfer von Gewalt geworden und vor Angst fast von Sinnen sind. Die sich schämen, obwohl man ihnen Unrecht zugefügt hat. Für diese Menschen gibt es nichts Wichtigeres, als sich jemandem anzuvertrauen.«
Der Arzt ging auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Dann blieb er abrupt stehen. »Sie hatte wochenlang Zeit, sich mir anzuvertrauen.«
Leo sah ihn aufmerksam an. In Hartungs Stimme schwang etwas mit, das er nicht genau benennen konnte. Enttäuschung?Dennoch spürte er eine leise Hoffnung. Vorsicht, dachte er, ein unbedachtes Wort könnte alles zerstören.
»Wir haben gesehen, dass Sie Ihr ganzes ärztliches Können einsetzen, um Fräulein Gerber zu helfen. Aber Sie haben auch gemerkt, dass unser Besuch zu einer Reaktion geführt hat, von der Sie selbst überrascht waren. Darf ich fragen, ob sich der Zustand der Patientin seither verschlechtert hat?«
Leo musste seine ganze Geduld aufbieten, während Hartung mit sich zu ringen schien.
»Nein«, sagte er schließlich. »Sie hat gestern Abend sogar einmal den Kopf geschüttelt, als die Schwester ihr etwas zu trinken geben wollte.«
Walther hob die Augenbrauen.
»Also ist es nicht ausgeschlossen, dass es ihr guttun könnte, wenn wir sie mit ihrer Vergangenheit konfrontieren?«
Hartung legte die Handflächen aneinander und klopfte mit den Fingerspitzen gegen den Mund. »Nein, das ist es nicht.« Er hob warnend die Hand. »Aber so etwas sollte unter ärztlicher Aufsicht geschehen und über einen längeren Zeitraum hinweg. Nicht im Rahmen einer polizeilichen Ermittlung und … durch Laien.«
Leo atmete tief durch. »Ich versichere Ihnen, dass Sie im Raum nebenan bleiben und jederzeit einschreiten können.«
»Im Raum nebenan?«, fragte Hartung aufgebracht.
»Zu viele Personen könnten die Patientin verwirren. Sie soll merken, dass etwas Neues geschieht, dass sich etwas verändert. Bitte.«
Er merkte, wie Robert neben ihm die Luft anhielt. Würde der Psychiater sich auf dieses Experiment einlassen?
»Gut. Aber ein Zwischenfall, und die Sache ist beendet.«
Im Raum war es so still, dass man nur den Atem der drei Menschen hörte. Johanna Gerber saß auf einem Stuhl, die Hände im Schoß. Leo kniete vor ihr, und Walther saß mit seinemStenoblock in der Nähe der Tür. Durch einen kleinen, nahezu unsichtbaren Sehschlitz konnte Dr. Hartung vom Nebenraum aus das Gespräch überwachen.
Leo sprach die junge Frau in ruhigem Ton an, stellte sich und Walther vor und wiederholte, dass sie keine Angst haben müsse.
»Ich war schon einmal hier, können Sie sich erinnern?«
Nichts.
»Ich hatte Ihnen ein Foto gezeigt. Darauf war ein Mann, den Sie kannten. Er heißt Viktor König.«
Die Bewegung war erneut minimal, ein Zucken des Mundwinkels, vielleicht hatte Hartung nebenan es nicht einmal bemerkt.
»Ich glaube, Sie haben ihn gekannt. Sie sind doch Schneiderin von Beruf. Eine gute, wie ich gehört habe. Frau Hunold hat es uns erzählt. Sie haben an Ihrer Nähmaschine gesessen und Kleider gesäumt und Nähte ausgelassen und sich vorgestellt, ganz woanders zu arbeiten. Dass Sie aus schönen Stoffen ausgefallene Kostüme nähen, für Haremsdamen und Prinzessinnen und Piratenbräute. Dass berühmte Schauspielerinnen Ihre Kleider anprobieren und die Menschen im Kino sie darin auf der Leinwand sehen. Und dass ein bisschen von diesem Glanz auf Sie abfällt.«
Leo ließ ihr Gesicht nicht aus den Augen. Sie hielt den Kopf gesenkt, aber er konnte sehen, wie sich ihr Mund ein wenig verzog, die geisterhafte Andeutung eines Lächelns.
»Also haben Sie sich, vielleicht aus dem Adressbuch, die Anschrift einer Filmgesellschaft besorgt. Oder Sie sind nach Feierabend die Friedrichstraße entlanggegangen und haben sich die Schilder an den Häusern angeschaut. Jedenfalls haben Sie sich eine Firma ausgesucht, die Gallus mit dem Hahn als Markenzeichen. Dann haben Sie sich zu Hause hingesetzt und eine Bewerbung geschrieben, haben vielleicht
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