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Mord in Der Noris

Mord in Der Noris

Titel: Mord in Der Noris Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Kirsch
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Elvira
Platzers Tage verliefen. Neu allerdings war, dass sie an einigen Stellen die
Schichten, die sie hatte, mit einem empörten Ausrufezeichen versah. Wohl immer
dann, vermutete Paula, wenn sie mit der Arbeitseinteilung von Frau Striegel
ganz und gar nicht einverstanden war. 2004 kosteten die Zigaretten bereits 3,60 Euro.
    Sie überlegte. 2004 war doch auch das Jahr gewesen, in
dem Erwin Platzer aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen und in dem Claudia
Weber, geborene Rupp gestorben war? Aber es fand sich weder ein Eintrag zu dem
Auszug noch ein Hinweis zum Sterbedatum und der versäumten Beerdigung.
Zumindest kein direkter. Nur die sich ab September häufenden Eintragungen
»geweint«, »viel geweint« und » TV , dann geweint«.
Paula war jetzt mit dem Raster der Tagebucheintragungen, mit seinen
wiederkehrenden Kürzeln und den immer gleichen Tagesabläufen, so vertraut, dass
sie zügig vorankam. Als sie den Kalender von 2004 weglegte, war es Viertel nach
zwei. Zeit für eine Pause, eben für »Kaffee + Gebäck«.
    Auch in dieser kurzen kalenderfreien Zeit beschäftigte
sie die Ermordete. So chaotisch ihre Wohnung auf andere wirken mochte, so
ordentlich, ja akribisch bis hin zur Pedanterie hatte die Altenpflegerin ihre
Eintragungen vorgenommen. Buch geführt über die banalsten aller Verrichtungen
wie schlafen, aufstehen, heimkommen, einkaufen. Ein ganz privates Tagebuch.
Vielleicht als eine Art Beleg, dass sie, die in ihrer Müllhalde jeder
Wohnlichkeit entbehren musste, dennoch ein vorzeigbares, nämlich mit anderen
berufstätigen Frauen durchaus vergleichbares Leben führte. Eins, das über das
reine Vegetieren hinausging. Jeder dieser immer gleichen Einträge über die
immer gleichen Abläufe hatte Elvira Platzer ein kleines Stück Sicherheit
zurückgegeben, die sie wohl lange Jahre vermisst hatte.
    In den Jahren 2005 bis 2007 variierten die Notizen.
Die alltäglichen Banalitäten spielten zwar nach wie vor die Hauptrolle, wurden
aber hin und wieder von den privaten Befindlichkeiten ein wenig aufgelockert.
Im Januar fand sich der Vermerk: »S. sagt, ich soll nicht so trödeln.
Blöde Kuh. Die kriegt doch ihre eigenen Sachen nicht geregelt.« Dieser Anpfiff
hatte Folgen für das Philipp-Melanchthon-Heim. Denn danach häuften sich
Eintragungen wie »bin krank«, »krankgemeldet«, »gehe nicht zur Arbeit« und –
noch lakonischer – »bleibe daheim«.
    Und noch etwas fiel Paula auf. In diesen Jahren hatte
Elvira Platzer versucht, eine gewisse Ordnung in ihr Leben zu bringen. In jeder
Woche wurde mindestens einmal »aufgeräumt«. Und alle drei, vier Tage
»abgewaschen«. Und es fanden sich Einträge wie »Haare gewaschen«, »Fingernägel
gefeilt«, »1 Pullover rausgewaschen«, »Knopf an gelbe Bluse angenäht«,
»Waschbecken geputzt«. Die einfachsten Dinge der alltäglichen Körper- und
Haushaltspflege wurden festgehalten. Doch neben der Mühe, die sie das gekostet
haben musste, erkannte Paula auch den wie aus einem tiefen Traum erwachten
Willen der Ermordeten, einen Neuanfang zu wagen. Einen, der sie irgendwann aus
diesem Chaos herausführen sollte. Denn in den beiden Jahrbüchern fanden sich
sogar, selten, aber immerhin, solche hoffnungsvollen Vermerke wie
»Sonntagsblitz weggeworfen« oder »Rucksack entsorgt, da voller Schimmel«.
    Notizen, die in den Aufzeichnungen der folgenden Jahre
nicht mehr auftauchten. Entweder hatte Elvira Platzer der Mut verlassen und sie
hatte diese Wegwerfaktionen eingestellt, oder sie hatte sie beibehalten, fand
sie aber nicht mehr notierenswert. Nach dem Zustand der Wohnung zu schließen,
war wohl Ersteres der Fall gewesen.
    Der Kalender von 2008 barg eine noch größere
Sensation. »M. ruft an, bin eingeladen zum Geb., gehe aber nicht hin«.
    »Und warum nicht?«, fragte Paula halblaut in die
Stille dieses späten Sonntagnachmittags hinein. Sie blätterte vor, sie
blätterte zurück, aber nirgends ein Hinweis, warum Elvira Platzer dieser
Einladung nicht gefolgt war. Und wer zum Teufel war M.? M., das
konnte alles Mögliche heißen. Nein, doch nicht ganz. M., das stand doch
eindeutig für Mutter oder Mama. Aber für welche? Für die leibliche oder für die
Stiefmutter? Hatte die Tote in dieser Zeit den Kontakt zu ihrer leiblichen
Mutter, zu Gertraude Klemm gesucht? Oder gar schon früher?
    »M.« sollte in den folgenden Jahren nur noch einmal
auftauchen, und zwar zu Neujahr 2009. »2x versucht, bei M. anzurufen, 2x
Anrufbeantworter«. Wieder dieses ominöse M.

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