Mord in der Vogelkoje
muss der Schütze nicht aus Kampen stammen. In anderen Dörfern ist es nicht anders.«
»Wie oft passiert das denn?«
»Eher regelmäßig als oft, hörte ich.«
»Und was ist mit dem toten Fremden?«, warf Asmus ein. »Was erzählt man sich über ihn?«
Jensen wandte sich ihm zu. »Über den erzählt man nicht, man munkelt. Und hat Angst. Eigentlich weiß niemand etwas Sicheres. Außer dem Schützen natürlich.«
»Angst?«
Jensen klopfte unbewusst mit den Fingern auf den Küchentisch. Unruhe las Asmus daraus ab. »Ja. Angst. In diesem Dorf gab es das noch nie. Einige aufgeschlossene Leute freuten sich über die Künstler, die hier bauten oder als Gäste zuzogen, wir lernten Bauweisen kennen, die wir auf Sylt vorher nicht hatten, zum Beispiel Häuser mit umlaufenden Balkonen, kurz, es war eine Art Aufbruch in eine neue Zeit, wie in Westerland. Wie mit dem Damm zu erwarten ist.«
»Dir gefällt die Veränderung? Trotz der Marder?«
»Ja. Trotz der Marder. Ich gebe es zu.«
Asmus schmunzelte. Ein offenherziges Bekenntnis. Sehr beliebt war diese Meinung wohl nicht.
»Und nun dies! Da keiner etwas weiß oder zu wissen scheint, kriecht die Furcht in jedes Haus. Kaum einer spricht mit dem anderen, nicht einmal Mutmaßungen werden geäußert. Selbst die Frauen, die normalerweise viel hören, flüstern nur miteinander.«
»Man könnte meine, so eine Stimmung entstünde durch eine echte Bedrohung.«
»Ja! Das ist meine Vermutung«, erklärte Jensen klipp und klar. »Aber ich weiß nicht, wer der Täter ist, wer bedroht wird und warum. Wir sind in etwas Unbekanntes verwickelt und geraten mit jedem Tag tiefer hinein.«
»Danke, dass du uns wenigstens das erklärst«, seufzte Matthiesen erleichtert. »Bisher sind wir nur dieser Mauer aus Schweigen begegnet, selbst bei beliebigen Begegnungen auf der Straße. Auch bei Dückes Mutter.«
»Es war auffallend, sie wirkte verängstigt«, ergänzte Asmus.
»Na ja, etwas sonderbar war sie schon immer.«
Asmus betrachtete Jensen prüfend. Einem Menschen sonderbares Verhalten zuzuschreiben war einfacher als zuzugeben, dass ein besonderer Grund für dessen Furcht vorlag. Was wusste Jensen? »Was diesen Erschossenen betrifft: War er möglicherweise vorher im Dorf, um Erkundigungen über die Entenarten einzuziehen, die hier einfliegen? Er war ein Herr aus besseren Kreisen, so möchte man ihn beschreiben. Vorläufig halte ich ihn für jemanden, dessen Steckenpferd Enten sind.«
»Bei mir war er nicht«, antwortete Jensen. »Wenn es um Enten ging, ist er an Petersen verwiesen worden.«
»Ihn haben wir noch nicht befragt«, gab Matthiesenzu. »Den haben wir erst mal dazu verdonnert, sich als Verantwortlicher für die Interessentengemeinschaft Kampener Entenkoje um Dückes Mutter zu kümmern, die offensichtlich am Verhungern ist, seitdem ihr Sohn zu Tode kam.«
»Ist das so? Meine Frau und ich werden sie besuchen. Mit einem Topf Suppe«, beschloss Jensen spontan.
»Wissen Sie, wie Dücke starb?« Asmus versuchte, das Gespräch wieder auf die für die Polizei wichtigen Punkte zu lenken. »Und wann starb er überhaupt?«
Jensen schüttelte bekümmert den Kopf. »Vor zwei, zweieinhalb Wochen. Er wurde in der Nähe des Alten Leuchtturms gefunden – das ist das Quermarkenfeuer Rotes Kliff. Ich habe keine Ahnung, was er auf dieser Seite des Dorfes vorhatte.«
»Seine Mutter glaubt, er sei von der Klippe gestürzt …«
»Der kleine Leuchtturm steht mitten in den Dünen, auch wenn er Rotes Kliff heißt. Wo Dücke lag, sind weit und breit keine Klippen.«
»Das ist ja seltsam«, sagte Asmus mit argwöhnisch zusammengekniffenen Augen. »Welcher Arzt hat denn seinen Tod festgestellt?«
»Keiner«, sagte Jensen verwundert. »Sein Hals war gebrochen, wie jeder sehen konnte. Man hielt es für einen Unfall.«
»Kann man auf Dünensand ausrutschen und den Hals brechen?«
»Unter sehr unglücklichen Umständen durchaus«, bestätigte Jensen. »Mitunter liegen da noch uralte Baumstämme unterm Sand oder angeschwemmte Planken, die durch den Wind freigelegt wurden. Wenn einer da übel hinfällt …«
»Aber wäre das nicht eher ungewöhnlich?«, erkundigte sich Asmus skeptisch.
»Ja, sehr ungewöhnlich. Aber nicht unmöglich.«
»Ich muss noch einmal auf fremde Besucher zurückkommen.« Asmus gab nicht auf, mochten die bisherigen Antworten auch unbefriedigend gewesen sein. »Sind in Kampen in letzter Zeit überhaupt Fremde aufgetaucht?«
»Ja, natürlich. Wir haben einige Gäste,
Weitere Kostenlose Bücher