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Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)

Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)

Titel: Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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wiederzusehen und vielleicht etwas von dem zu erfahren, was Pitt wissen musste.
    »Ja«, gab Adriana mit erregt klingender Stimme zurück. »Ich habe gerade erst davon erfahren und alle anderen Verabredungen abgesagt, um hingehen zu können. Es wäre aber viel schöner, wenn Sie mich begleiten würden. Bitte fühlen Sie sich nicht dazu verpflichtet … aber falls Sie Zeit haben sollten …«
    Charlotte brauchte keine Sekunde zu überlegen. »Das kann ich einrichten. Die Sache hat zweitausend Jahre lang gewartet, das ist mehr als genug. Wir werden eine Zeitreise unternehmen, und der heutige Tag wird einige Stunden lang einfach nicht existieren. Wo ist die Ausstellung, und wo können wir uns treffen?«
    »Ich könnte Sie in einer Stunde mit meiner Kutsche abholen – oder ist das zu früh?«
    »Nein, überhaupt nicht. Ich versichere Ihnen, ich habe nichts Dringendes zu tun – alles, was erledigt werden muss, kann warten.«
    »Dann also in einer Stunde. Auf Wiedersehen.«
    Charlotte erwiderte den Abschiedsgruß und hängte den Hörer auf. Sie würde Minnie Maude von ihrem Vorhaben in Kenntnis setzen, ihr schönstes Ausgehkleid anziehen und sich darauf einstellen, bezaubernd, freundlich und klug zu sein, aber auch – sofern sich das als nötig erweisen sollte – ein wenig Verrat zu üben.
    Vor dem Frisierspiegel im Schlafzimmer betrachtete sie prüfend ihr Gesicht. Was sie sah, gefiel ihr nicht. Ihr war zuwider, was sie zu tun gedachte, doch sie sah keine andere Möglichkeit, sofern sie Pitt ihre Unterstützung nicht rundheraus verweigern wollte. Er tat, was seine Pflicht war. Jemand hatte die alte Serafina Montserrat ermordet, die voller Angst vor der Verfinsterung, die ihrem Geist drohte, im Bett gelegen hatte.
    Es blieb Charlotte keine Wahl, wenn sie sich nicht feige drücken wollte. Sie konnte wirklich nur hoffen, dass sich bei dem, was sie zu ermitteln im Begriff stand, Adrianas Schuldlosigkeit herausstellen würde.
    Sie trafen am späten Vormittag vor der Galerie ein. Kaum hatten sie das Gebäude betreten, als die Vergangenheit sie umhüllte. Im Mittelpunkt der Ausstellung standen sowohl die Person Schliemanns, der am zweiten Weihnachtstag des Jahres 1890 in Neapel gestorben war, als auch seine Entdeckungen. Es war, als lebte er noch, so sehr füllte er die Ausstellungsräume mit der Macht seiner Träume und den Zeugnissen seiner Tatkraft. Ein großes Porträt am Eingang zeigte ihn mit Ende fünfzig oder Anfang sechzig: ein bebrillter Mann im Anzug mit hochgeschlossener Weste, dessen Haaransatz zurückzuweichen begann.
    »Ich habe ihn mir irgendwie anders vorgestellt«, sagte Adriana ein wenig enttäuscht und zuckte die Achseln. »Eher großartig, mit wildem Blick, einen Mann, der nach Troja gepasst hätte.«
    Charlotte lächelte. »Jetzt müssen Sie nur noch sagen, dass die schöne Helena in Wahrheit ein reizloses Geschöpf war. Der bloße Gedanke wäre mir unerträglich.«
    Adriana lachte. »Den Dichtern zufolge hat man ihretwegen ›Ilions zum Himmel ragende Türme niedergebrannt‹, wie es bei Christopher Marlowe heißt.« Ihr Blick fiel auf ein weiteres Porträt ein Stück weiter an der Wand. Es zeigte eine recht junge, dunkelhaarige Frau mit einem aus fünfzehn oder mehr goldenen Schnüren bestehenden Halsschmuck sowie einem großartigen goldenen Kopfputz, zu dessen beiden Seiten lange kunstvolle Gebilde bis auf die Schultern herabhingen.
    Charlotte trat näher, und Adriana tat es ihr gleich.
    »Sie ist ziemlich schön«, sagte Charlotte und betrachtete das Bild aufmerksam. Dann las sie die Inschrift. »Sophia Schliemann mit dem bei Hissarlik gefundenen Schmuck, der angeblich Helena gehörte, der Schwiegertochter des Königs Priamos.« Sie wandte sich Adriana zu. »Ich wüsste zu gern, wie diese Helena wirklich war. Unmöglich kann eine Frau so schön gewesen sein, dass eine ganze Stadt mitsamt all ihren Bewohnern vernichtet wurde, weil sich jemand in sie verliebt hatte – von dem elf Jahre dauernden Krieg mit den zahllosen Toten und Verstümmelten ganz zu schweigen. Gibt es eine Liebe, die das wert ist?«
    »Nein«, sagte Adriana, ohne zu zögern. »Es hatte aber auch nichts mit Liebe zu tun. Ich habe mich oft gefragt, was es mit Liebe und Schönheit auf sich hat. Wer eine Frau wegen ihres Aussehens heiratet, ohne sich darum zu kümmern, was für ein Mensch in dieser äußeren Hülle steckt, handelt wie jemand, der ein Kunstwerk erwirbt, weil er es gern ansieht oder es anderen zeigen möchte. Wenn sie

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