Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
kenne, auch nicht davor zurückschrecken, den Mann nötigenfalls umzubringen.«
Pitt spürte, wie der Druck stärker auf ihm lastete. »Dann dürfen wir also damit rechnen, dass der Anschlag in Dover stattfindet. Allerdings wage ich nicht, Leute von den Signalen und Weichen abzuziehen – immerhin könnte das ja auch ein Täuschungsmanöver sein.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, wirkte aber in keiner Weise entspannt. »Die Sache mit dem Straßenfegerkarren ist eine erstklassige Tarnung. Mit dem Ding kann der Mann an jeder beliebigen Stelle auftauchen, ohne dass jemand misstrauisch wird. Mit schmutziger Kleidung und einer Schirmmütze ist er so gut wie unsichtbar, wenn er den Kopf gesenkt hält.«
»Wollen wir die Sache der zuständigen Ortspolizei mitteilen?«, fragte Stoker.
»Vorerst nicht. Die haben keine Möglichkeit, die Sache geheim zu halten, und sobald sie etwas davon wissen, spricht sich die Angelegenheit binnen Stunden herum, und alle werden sich anders verhalten, als sie es sonst täten, weil sie dann befangen sind. So etwas fällt einem Mann wie Staum sofort auf, die Leute ändern ihren Plan, und wir tappen völlig im Dunkeln. Natürlich ist nicht auszuschließen, dass sie das ohnehin tun.«
Stokers Gesicht spannte sich an. Ein kleiner Muskel an seiner Kinnlade zuckte.
»Ich weiß«, sagte Pitt ruhig. »Ich kann nicht das Geringste über Herzog Alois finden, was mir weiterhilft oder auch nur von ferne einen Hinweis darauf liefert, warum ihm jemand ans Leder will. Wie es heißt, ist er zurückhaltend, fleißig und beliebt. Allerdings verstehen ihn nicht alle, weil er in den Augen vieler ein bisschen zu intellektuell angehaucht ist. Es steigert seine Beliebtheit auch nicht unbedingt, dass er keinen Hehl daraus macht, wie sehr ihm Dummheit zuwider ist. Er beschäftigt sich mit wissenschaftlichen Fragen, Entdeckungen, Theorien und dergleichen, lauter Dingen, an denen die meisten Menschen nicht das geringste Interesse haben. Er soll einen trockenen Humor besitzen und gern Musik hören, vor allem die eher schwierigeren der deutschen Komponisten, beispielsweise Beethovens Spätwerk.«
»Das Ganze ergibt überhaupt keinen Sinn«, sagte Stoker unglücklich. »Wir müssen etwas übersehen haben.«
»Vielleicht ist das gerade der entscheidende Punkt«, sagte Pitt nachdenklich.
»Dass es keinen Sinn ergibt?«
»Ja. Damit ist die Sache völlig unvorhersagbar. Man kann unmöglich vor etwas auf der Hut sein, was man weder vorhersieht noch versteht.«
»Sind die Leute denn wirklich so gerissen?«, fragte Stoker zweifelnd.
»Dürfen wir sicher sein, dass sie es nicht sind?«, hielt Pitt dagegen.
Stoker schwieg.
»Ich bin nach wie vor dabei, mich nach dem Hintergrund der vier Begleiter zu erkundigen«, fuhr Pitt fort. »Soweit ich bisher sagen kann, scheint jeder von denen genau das zu sein, was man erwarten würde: Vertraute des Herzogs, Männer aus niedrigem Adel, die irgendeine Stellung im Heer bekleiden, ohne auf eine großartige militärische Laufbahn erpicht zu sein. Adjutanten, untergeordnete Chargen, etwas in der Art.«
»Ich komme mir vor wie auf dem Präsentierteller«, sagte Stoker kläglich, mit einem Anflug von Zorn in der Stimme. »Am allerliebsten würde ich Staum unter irgendeinem Vorwand festnehmen, aber natürlich ist mir bewusst, dass er unbedingt dort sein muss, wo wir ihn im Auge behalten können.«
»So ist es«, stimmte ihm Pitt zu und setzte sich mit einem Mal aufrecht hin. »Verlieren Sie ihn auf keinen Fall aus den Augen! Wahrscheinlich ist er zu raffiniert, als dass er sich etwas anmerken ließe, aber solange er nicht weiß, dass wir ihn beobachten, begeht er vielleicht doch den einen oder anderen kleinen Fehler und setzt sich beispielsweise mit jemandem in Verbindung.«
»Es ist aber ebenso gut möglich, dass er von der Beschattung durch uns Kenntnis hat und unsere Aufmerksamkeit von dem ablenkt, was wirklich passiert.« Stoker ließ die Schultern sinken. »Ich möchte den Mann fassen.«
Pitt lächelte trübselig. »Ich auch. Aber wichtiger ist es, dass Herzog Alois sicher ins Land gelangt und es auch sicher wieder verlässt.«
»Sehr wohl, Sir.«
Diesmal räumte man Pitt ohne Schwierigkeiten eine volle Viertelstunde für ein Gespräch mit dem Premierminister ein. Er vergeudete keine Minute davon.
»Sind Sie weitergekommen?«, erkundigte sich Lord Salisbury, der mit dem Rücken zum Kamin stand, mit ernster Miene. Seine weißen Haare standen wirr durcheinander, als
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