Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
nicht zugleich eine Gefährtin ist, mit der er all seine Träume, Freuden und Schmerzen teilen kann, ein Mensch, in dessen Gegenwart er nicht allein ist, ist das etwa so, als kaufe man Lebensmittel, die man nicht essen kann.«
Adrianas Gesicht war unbewegt und der Blick ihrer Augen unergründlich.
Mit einem Mal trat das Bild einer entsetzlichen Leere vor Charlottes inneres Auge, die sie nie zuvor empfunden hatte. Betrachtete Blantyre seine Frau womöglich so, wie Adriana es beschrieben hatte: als zerbrechlichen, kostbaren Besitz? Was würde er empfinden, wenn sich die ersten Falten in diese makellose Haut gruben, die jugendliche Frische von ihren Wangen schwand, die Haarpracht sich verminderte und ergraute, sie sich nicht mehr mit der jetzigen Anmut bewegte?
Insgeheim hatte sich Charlotte stets gewünscht, schön zu sein: nicht nur gut auszusehen, sondern die Art von Schönheit zu besitzen, die andere blendet, so, wie es einst Lady Vespasia getan hatte. Jetzt war sie glücklich darüber, dass sich das nicht so verhielt. Pitt war nicht nur ihr Ehemann, sondern der engste Freund, den sie je gehabt hatte. Er stand ihr näher als ihre Schwester Emily oder irgendein anderer Mensch. Sie merkte, dass sie lächelte, während sie, von innen heraus strahlend, zur Antwort gab: »Die arme Helena. Meinen Sie, dass es nichts anderes war als ein Streit um Besitz, für den eine ganze Nation zahlen musste?«
»Nein«, sagte Adriana und schüttelte den Kopf. »Den Griechen der Antike bedeutete eine lediglich äußerliche Schönheit nichts. Sie musste mit etwas einhergehen, was man als geistige und moralische Vollkommenheit bezeichnen könnte.«
»Hat auch Sanftheit des Wesens dazugehört?«, fragte Charlotte. »Glauben Sie, dass Helena außerdem einen lebendigen Humor besaß? Dass sie rasch verzeihen konnte und von großzügigem Wesen war?«
Adriana lachte. »Bestimmt – kein Wunder, dass man Troja um ihretwillen niedergebrannt hat! Ich bin überrascht, dass man sich damit begnügt und nicht ganz Kleinasien zerstört hat! Wir wollen uns auch das andere ansehen.« Sie berührte Charlotte am Arm, und gemeinsam zogen sie weiter, staunten über andere Schmuckstücke, goldene Gesichtsmasken, die Fotografien der Ruinen jener Mauern, die einst den legendären Helden aus Agamemnons Heer den Zutritt zu der Stadt verwehrt hatten.
»Was meinen Sie, wie viel davon auf Wahrheit beruht?«, fragte Charlotte nach mehreren Minuten des Schweigens. Auf keinen Fall durfte sie diese günstige Gelegenheit verstreichen lassen, bei der sie offen reden und vielleicht etwas erfahren konnte. »Glauben Sie, dass jene Leute ebenso empfunden haben wie wir: Neid, Angst, das Bedürfnis nach Rache für etwas, was man uns angetan hat und was wir nicht vergessen können?« Ob Adriana in diesen Worten ihren Hintergedanken erkennen konnte?
Sie löste den Blick von den Fotos, die sie gerade betrachtete, und wandte sich Charlotte zu. »Selbstverständlich. Sie etwa nicht?« Ein Anflug von Furcht legte sich auf ihre Züge. »Solche Dinge ändern sich nie.«
Charlotte versuchte sich an das zu erinnern, was sie in der Schule über den geschichtlichen Hintergrund gelernt hatte. »König Agamemnon hat seine Tochter getötet, nicht wahr? Er hat sie den Göttern geopfert, damit sich der Wind drehte und er sein Heer nach Troja schaffen konnte. Als er dann elf Jahre später nach Hause zurückkehrte, hat ihn seine Frau dafür umgebracht.«
»Ja«, stimmte Adriana zu. »Das kann ich ehrlich gesagt gut verstehen. Immerhin hatte sie inzwischen seinen Bruder geheiratet, es gab also eine ganze Reihe der unterschiedlichsten Empfindungen. Anschließend hat ihr Sohn sie ermordet, und so ging es endlos weiter. Eine ziemlich üble Geschichte.«
»So ist das in Fällen von Rache oft«, sagte Charlotte in plötzlich geändertem Tonfall, als spräche sie von der Gegenwart.
Adriana sah sie fragend an. »Das klingt so, als bezögen Sie sich auf Menschen, die Sie kennen.«
»Handelt es sich nicht bei jeder guten Geschichte letztlich um Menschen, die wir kennen?«
Adriana dachte einen Augenblick lang nach, ehe sie sagte: »Vermutlich.« Dann fügte sie mit strahlendem Lächeln hinzu: »Ich wusste, dass es interessanter sein würde, mit Ihnen gemeinsam herzukommen als allein! Haben Sie auch Zeit, mit mir zu Mittag zu essen? Es gibt hier ganz in der Nähe ein sehr gutes Lokal, dessen Koch aus Kroatien stammt. Ich würde Sie gern mit einigen Speisen aus meiner Heimat bekannt machen. Sie
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