Mord in Mesopotamien
Pater ja selbst ein Ausländer war. Er schien aber nicht beleidigt zu sein, sondern lachte nur freundlich und fragte mich, ob man etwas Neues über den schielenden Mann erfahren habe. Ich verneinte, und dann erkundigte er sich eingehend danach, wie es gewesen war, als Mrs Leidner und ich den Mann bei dem Versuch beobachtet hatten, auf den Zehen stehend in ihr Fenster hineinzuschauen.
«Offensichtlich interessierte er sich ganz besonders für Mrs Leidner», sagte er nachdenklich, nachdem ich es ihm erklärt hatte. «Ich frage mich schon lange, ob der Kerl nicht ein als Iraker verkleideter Europäer war.»
Daran hatte ich noch nie gedacht, ich hatte es bisher als selbstverständlich angenommen, dass der Mann ein Eingeborener sei, aber eigentlich nur, weil er eine gelbe Haut hatte und einen Anzug von entsetzlichem Schnitt trug.
Pater Lavigny erklärte, er werde noch einmal um das Haus zu der Stelle gehen, an der wir den Mann gesehen hatten. «Vielleicht hat er dort etwas verloren. In Kriminalromanen pflegen die Verbrecher das zu tun.»
Er verabschiedete sich, und ich ging hinauf aufs Dach, wo ich auf Miss Johnson stieß. Ehe sie mich bemerkte, sah ich, dass etwas nicht stimmte. Sie stand in der Mitte des Daches und starrte mit entsetztem Ausdruck geradeaus. Es war, als sehe sie ein Gespenst. Ich war bestürzt. Ich hatte sie zwar neulich abends auch völlig verstört gesehen, aber so schlimm war es nicht gewesen.
«Was haben Sie denn?», fragte ich besorgt.
Sie wandte den Kopf und blickte mich an… als sehe sie mich nicht.
«Was ist denn?», fragte ich wieder.
Nun verzerrte sich ihr Gesicht, als versuche sie vergebens, etwas hinunterzuschlucken, das ihr im Halse steckte, und sagte schließlich mit dumpfer Stimme: «Ich habe soeben etwas gesehen.»
«Was haben Sie gesehen? Sagen Sie es doch. Was war es denn? Sie sehen ja aus, als sei Ihnen der Leibhaftige erschienen.»
Sie riss sich zusammen, sah aber noch immer ganz erschüttert aus. Dann murmelte sie mit Grabesstimme: « Ich habe gesehen, wie man von draußen hereinkommen kann… ni e mand würde es für möglich halten. »
Ich folgte ihrem Blick, konnte aber nichts sehen. Mr Reiter stand in der Tür des Fotoateliers, und Pater Lavigny ging gerade über den Hof… mehr sah ich nicht.
Ich wandte mich erstaunt um und stellte fest, dass Miss Johnson mich merkwürdig anstarrte. «Ich sehe wirklich nichts, ich weiß nicht, was Sie meinen», sagte ich. «Wollen Sie es nicht erklären?»
Sie schüttelte den Kopf. «Jetzt nicht. Später. Wir hätten es merken müssen… wir hätten es merken müssen!»
«Aber sagen Sie mir doch…»
Doch wieder schüttelte sie den Kopf. «Ich muss es mir erst durch den Kopf gehen lassen.» Dann ging sie taumelnd die Treppen hinunter.
Da sie offensichtlich allein sein wollte, folgte ich ihr nicht, sondern setzte mich ans Geländer und versuchte vergebens, etwas herauszufinden. – Es gab nur einen Weg in den Hof … durch das große Tor. Davor stand der Wasserträger neben seinem Pferd und plauderte mit dem indischen Koch. Niemand hätte durch das Tor gehen können, ohne von den beiden gesehen zu werden.
Ich schüttelte verblüfft den Kopf und ging hinunter.
24
M iss Johnson schien beim Abendessen wie sonst; nur bei genauer Beobachtung fiel einem ihr verstörter Blick auf, und ein paarmal hörte sie nicht zu, wenn jemand mit ihr sprach. Es herrschte eine gedrückte Stimmung. Man wird einwenden, dass das am Tag einer Beerdigung nur zu verständlich sei, aber es war nicht das. Die Atmosphäre erinnerte mich an meine erste Mahlzeit im Hause, als Mrs Mercado mich ständig beobachtete und man das unbehagliche Gefühl hatte, dass jeden Augenblick etwas Peinliches geschehen müsse. Das gleiche Gefühl, nur noch wesentlich stärker, hatte ich heute, als wir alle am Tisch saßen, mit Monsieur Poirot am oberen Ende. Wäre etwas zu Boden gefallen, hätte bestimmt jemand aufgeschrien.
Wir trennten uns bald nach dem Essen, und ich ging sofort zu Bett. Kurz vor dem Einschlafen hörte ich, wie Mrs Mercado vor meiner Tür Miss Johnson gute Nacht sagte; dann schlief ich mehrere Stunden tief und traumlos.
Auf einmal schreckte ich hoch und hatte das Gefühl, es drohe ein grauenhaftes Unheil. Ein Laut hatte mich geweckt, und als ich aufgerichtet im Bett saß und lauschte, hörte ich ihn wieder: ein entsetzliches, qualvolles Stöhnen. Im Bruchteil einer Sekunde hatte ich die Kerze angezündet und war aus dem Bett gesprungen. Ich nahm die
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