Mord in Tarsis
gerade noch rechtzeitig«, sagte dieser feierlich. »Der Verschiedene sollte gerade zum Nomadenlager gebracht werden, wo man ihn nach ihren Riten beisetzen wird. Kommt mit mir.«
Sie fanden Yalmuk Blutpfeil auf einem Leichenwagen, der mit kostbarer Seide bedeckt war. Seine Kleider waren gewaschen und sein Körper gebadet und geölt worden. Seine Hände lagen gekreuzt auf seiner Brust und ruhten auf dem Heft seines Krummschwerts. Die tödliche Wunde war anstandshalber mit einem Seidenschal bedeckt worden, und selbst seinem Gesicht hatte man einen friedlichen Ausdruck verliehen.
»Gute Arbeit«, lobte Eisenholz. »Er wirkt fast glücklich, tot zu sein.«
»Wir bemühen uns immer, das Beste für unsere Kunden zu tun«, sagte der staatliche Bestatter.
Vorsichtig hob Nistur den Schal vom Hals des toten Botschafters. Beide Männer untersuchten die schreckliche Wunde interessiert. Muschelring war blaß geworden.
»Du hast in deinem kurzen Leben doch bestimmt schon genug Mordopfer gesehen, oder?« murmelte Nistur.
»Mehr als genug«, sagte sie. »Aber ich konnte mich noch nie daran gewöhnen. Ich bin Diebin, keine Mörderin.«
»Diese Wunde sieht seltsam genug aus«, sagte Eisenholz, »aber ich kann nicht sagen, weshalb.«
»Ich verstehe, was du meinst«, stimmte Nistur zu. »Der Schnitt ist völlig glatt, aber eine sehr scharfe Klinge würde auch keine zerfransten Ränder hinterlassen. Dafür ist normalerweise klar, wo ein Schnitt anfängt und wo er aufhört. Es gibt eine… eine…«, er suchte nach dem passenden Wort, »eine Ungleichmäßigkeit der Wunde: einen breiteren Einschnitt, wo der Schnitt beginnt, oder eben einen flacheren Schnitt, wo die Klinge abgehoben wurde. Hier haben wir einen fast kreisrunden Schnitt, der rundherum nahezu gleich tief erscheint.«
»Ich glaube, euch beiden macht das auch noch Spaß«, murmelte Muschelring.
»Die geistigen Fähigkeiten herauszufordern ist immer erfreulich«, sagte Nistur. Dann, zu dem Bestatter: »Ich muß ihn umdrehen, damit wir seinen Nacken untersuchen können.«
»Muß das sein?« fragte der kahle Mann schockiert.
»Ich versichere Euch, daß es ihm nicht das mindeste ausmachen wird.«
Erschüttert rief der Mann zwei Gehilfen, deren Gesichter so trübsinnig waren wie das seine. Vorsichtig richteten die beiden die Leiche fast bis in Sitzposition auf. Nistur und Eisenholz gingen nahe heran, um das Genick zu untersuchen.
»Aha!« sagte Nistur. »Seht her, meine Freunde. Hier haben wir eine Fortsetzung des ringförmigen Einschnitts, der deutlich und knochentief um das Genick herumführt; aber bemerkt ihr den Unterschied?«
Entschlossen, vor ihren Gefährten nicht zimperlich zu erscheinen, blinzelte Muschelring auf die Wunde, wobei sie sich bemühte, ihr Essen im Magen zu behalten. »Sieht aus wie zwei Schnitte«, sagte sie. »Einer direkt über dem anderen.«
»Genau!« triumphierte Nistur.
»Und was bedeutet das?« fragte Eisenholz. »Eine solche Wunde habe ich noch nie gesehen.«
»Aber ich«, sagte Nistur. »In meiner, hm, meiner früheren Tätigkeit habe ich die Eigenschaften sehr vieler Waffen kennengelernt. Diese Wunde stammt überhaupt nicht von einer Klinge. Sie stammt von einer Garrotte, einem sehr starken, dünnen Stahldraht mit zwei Handgriffen. Der Draht legt sich um den Hals, und die Griffe werden in entgegengesetzter Richtung gezogen, um die Schlinge anzuziehen. Der Doppelschnitt ist an der Stelle, wo sich die Drähte hinter dem Genick kreuzen.« Auf sein Zeichen legten die Gehilfen den Körper wieder hin und richteten ihn erneut sorgfältig wie für ein Staatsbegräbnis her.
»Kommt, meine Freunde«, sagte Nistur. »Wir haben viel zu tun.«
Vor der Leichenhalle atmete Muschelring wieder auf. »Ich mag diesen Ort nicht! Ich wohne vielleicht nicht gerade in einem Herrenhaus, aber wenigstens sind die meisten Leute dort am Leben!«
»Wo wohnst du, wenn du nicht bei Stunbog bist oder die Gastfreundschaft des fürstlichen Kerkers in Anspruch nimmst?« fragte Eisenholz das Mädchen.
Sie zuckte mit ihren knochigen Schultern. »Hier und da. Meistens halte ich mich in der Altstadt auf.«
»Ich dachte, die wäre verlassen«, sagte Nistur.
»Offiziell heißt es, sie wäre verlassen, weil es dort keine Haushalte oder Geschäfte gibt. Das heißt, man kann dort keine Steuern eintreiben, und das bedeutet, daß sie für die Beamten eben nicht existiert. Aber dort leben Menschen, die keine andere Bleibe finden. Wer einen Schlafplatz sucht, findet
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