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Mord in Wien: Wahre Kriminalfälle (German Edition)

Mord in Wien: Wahre Kriminalfälle (German Edition)

Titel: Mord in Wien: Wahre Kriminalfälle (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Schimmer
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seinen Kaffee und Tee. Bis zum 11. Juli, dem Beginn seines Spitalsaufenthaltes, hatte die Frau ihm insgesamt fast drei Tuben Zelio beigebracht.
    Durch ihr Geständnis erfahren die Gerichtschemiker endlich, wonach sie konkret suchen müssen: Zelio enthält als Wirkstoff 2,5 Prozent Thallium in schwefelsaurer Verbindung. Prof. Jansch und Prof. Zaribnitzky testen die noch aufbewahrten Reste der Leichenteile nun ausschließlich auf das stark giftige Schwermetall. Dabei gelingt es ihnen, aus 3095 Gramm Untersuchungsmaterial 17,3 Milligramm Thalliumsulfat abzuscheiden.
    Die ärztlichen Aufzeichnungen zum Verlauf von Hermann Lichtensteins Krankheit lassen darauf schließen, dass Leopoldine ihm auch noch bei ihren Besuchen im Spital mehrmals mit dem Rattengift versetzte Getränke eingeflößt hat. Insbesondere verdächtigen die Ermittler sie, dass sie ihm in der ersten Septemberwoche, in der er sich daheim aufhielt, erneut Gift ins Essen mischte, was ein Wiederaufflammen der Erkrankung und schließlich den Tod des Mannes zur Folge hatte. Genau das allerdings leugnet Leopoldine Lichtenstein vehement.
    Selbst Prof. Haberda kann mit den Methoden, die ihm in den 1920er-Jahren zur Verfügung stehen, nicht beweisen, dass die Frau lügt, denn der menschliche Körper scheidet Thallium nur sehr langsam aus. Deshalb ist es durchaus denkbar, dass die knapp drei Tuben Zelio, die Leopoldine ihrem Mann von Ende Juni bis Anfang Juli verabreicht hat, letztlich tödlich gewesen sind. Die bei der ersten chemischen Untersuchung nachgewiesenen geringen Arsenmengen spielten höchstwahrscheinlich keine Rolle, denn dieses Gift war hauptsächlich in den Knochen als Depot eingelagert und dadurch für den übrigen Körper unschädlich.
    Mildes Urteil
    Weil die Medizin in diesen Tagen noch kaum Erfahrung mit Thallium-Vergiftungen gemacht hat, lässt Haberdas Gutachten auf sich warten. Erst 1926, während die Untersuchungen in der Strafsache Lichtenstein laufen, wird der Fall einer akuten Intoxikation mit dem Schwermetall bekannt: Ein Buchdrucker trinkt irrtümlich in Wasser gelöstes Thalliumnitrat, das er zu technischen Zwecken verwenden will. Bei dem Betroffenen zeigen sich dieselben Symptome wie bei Hermann Lichtenstein: die ziehenden Schmerzen in den Beinen, die heftigen Magen-Darm-Beschwerden, das Erbleichen von Haut und Haaren, der Haarausfall.
    Diese jüngsten Beobachtungen stützen Haberdas Gutachten, und im Frühjahr 1927 ist es schließlich so weit: Leopoldine Lichtenstein wird wegen Giftmordes angeklagt. Die Staatsanwaltschaft weist auf den mildernden Umstand des offenen Geständnisses hin. Auch das Tatmotiv kommt der Frau zugute: Hermann hatte sie brutal misshandelt, sexuell übermäßig in Anspruch genommen, ihr kein Haushaltsgeld gegeben und sie sogar zur Prostitution zwingen wollen. Im Hintergrund stand aber auch ein Liebesverhältnis zu jenem Mann, der nach Hermanns Tod bei Leopoldine einzog.
    In der Hauptverhandlung am 27. März 1927 schwächt die Angeklagte ihr Geständnis wesentlich ab. Sie gibt wohl zu, dass sie ihren Mann habe krank machen, nicht jedoch habe töten wollen. Außerdem will sie plötzlich das Rattengift nur ein einziges Mal verabreicht haben – am 24. Juni 1925 in der Paradeissauce. An der Unglaubwürdigkeit dieser Behauptung stören die Geschworenen sich nicht. Sie nehmen in ihrem Schuldspruch nicht Mord, sondern Totschlag an. Für Leopoldine Lichtenstein bedeutet das Urteil immerhin acht Jahre schweren Kerker.
    Weil vor Gericht ausführlich über die Zelio-Rattenpaste und ihre Wirkung gesprochen wird und die Zeitungen ebenso ausführlich darüber berichten, verwundert es nicht, dass bereits Anfang April eine 21-jährige Näherin in Selbstmordabsicht zu dem Mittel greift. Die junge Wienerin nimmt eine Tube davon ein, übersteht die Vergiftung aber nach mehreren Monaten Krankenhausaufenthalt.
    Eine andere Zelio-Benutzerin lernt höchstpersönlich von der Erstanwenderin: Die berüchtigte Martha Marek teilt für kurze Zeit die Gefängniszelle mit Leopoldine Lichtenstein und erwirbt dabei profunde Kenntnisse im Umgang mit dem Gift, was weitere vier Menschen das Leben kostet. Ganz im Gegensatz zur schnelllebigen Kleidermode hielt der Zelio-Boom weltweit etwa ein halbes Jahrhundert lang an. Erst in den 1970er-Jahren verschwand die Rattenpaste endgültig vom Markt und damit allmählich auch aus dem Repertoire der Giftmörder. Doch die Bayer AG hatte bereits Mitte der Fünfzigerjahre einen weiteren einschlägigen Trend

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