Mord ist aller Laster Anfang: Ein Mitchell & Markby Roman
den Tag, an dem er zum Präsidenten des Britischen Industriellenverbandes gewählt werden sollte.
Sara brachte den Kaffee auf einem Tablett herein, und Meredith schob auf dem Tisch rasch Bücher und Papiere zur Seite, damit sie das Tablett absetzen konnte.
»Wozu die Soziologiebücher?« fragte Meredith.
»Ich habe daran gedacht, mich beruflich irgendwie weiterzuqualifizieren. Richtig studieren kann ich nicht, ich habe kein Abitur. Aber ich könnte einen Kurs an der Technischen Hochschule belegen.« Nervös schob Sara sich das Haar aus der Stirn und reichte Meredith eine Tasse. Dann lehnte sie sich zurück, schlang die Hände ineinander und spielte auf eine Art mit ihrem Riesenrubin, die Meredith immer auffälliger fand. »Ich bin froh, daß du das Heim gesehen hast. Ehe ich anfing, dort zu arbeiten, habe ich keine Ahnung gehabt, daß es so etwas überhaupt gibt – daß Frauen so leben können. Ich dachte wirklich, diese Dinge wären seit Charles Dickens passé.«
»Wer hat denn den Kontakt zu St. Agatha hergestellt?«
»Die Freundin einer Freundin. Es war reiner Zufall. Manche Frauen, die zu uns kommen, haben Schreckliches mitgemacht. Einige sind nur verängstigt, manche richtig verletzt, viele blaue Flecke und Blutergüsse und so weiter. Oft sind die Kinder, wenn sie sie mitbringen, völlig durcheinander und haben Verhaltensstörungen. Die Frauen sind äußerlich verletzt, aber die Wunden der Kinder sind innerlich. Mehrere Frauen haben mir erzählt, sie seien als Kinder selbst mißhandelt worden. Man würde meinen, daß ein solches Kind als erwachsene Frau nichts mit einem Mann zu tun haben wollte, der sie verprügelt, nicht wahr? Das Gegenteil ist der Fall. Es ist schwer zu verstehen, aber es hat eben immer zu ihrem Leben gehört. Oft verlassen sie uns und gehen zu den Männern zurück. Sie wissen nicht, wohin sie sonst sollen. Sie haben keine Familien, die ihnen helfen, oder sie schämen sich, zu ihren Familien zu gehen. Sie haben kein Geld und keine Wohnung. Also kehren sie zu dem Mann zurück. Manchmal gehen sie zurück und sagen, diesmal wird alles gutgehen, wissen aber genau, daß das nicht stimmt. Doch manchmal werden sie geradezu von dem Gefühl getrieben, sie müßten zurück. Als sehnten sie sich danach zu leiden.«
»Was ist mit den Männern?« fragte Meredith. »Machen sie große Schwierigkeiten?«
»Gelegentlich, aber nicht immer so, wie man es erwartet. Manche Ehemänner sehen sehr respektabel aus, wenn sie bei uns auf der Matte stehen. So gar nicht wie Ungeheuer. Manchen merkt man natürlich an, daß es schwere Fälle sind. Aber ich erinnere mich an einen Typen, der uns versicherte, alles, was seine Frau erzählen würde, sei gelogen. Er sprach gebildet, war gut gekleidet, und was er sagte, klang plausibel. Hätten wir nicht ihre Blutergüsse gesehen, hätten wir ihm vielleicht sogar geglaubt. Hinterher erzählte uns seine Frau, es habe mit Sex zu tun … Ich meine, er konnte nicht, wenn er sie vorher nicht verprügelte. Es war nicht etwa so, daß er trank, er hatte eine verantwortungsvolle Stellung und große Angst, seine Vorgesetzten könnten erfahren, daß seine Frau bei uns im Frauenhaus war. Ein anderer behauptete, wir hielten seine Frau gegen ihren Willen fest, und drohte uns mit einer Klage. Die Menschen benehmen sich schon sehr seltsam.« Sie hielt plötzlich inne.
»Ja«, sagte Meredith und wartete geduldig, denn sie spürte, daß Sara mit ihrer eigenen Geschichte beginnen würde, sobald sie bereit dazu war. Nach einer langen Pause begann sie wieder zu sprechen.
»Die Männer, die äußerlich so korrekt aussehen, aber im Innern wahre Ungeheuer sind, erinnern mich immer an Philip Lorrimer. Er hat auch nicht wie ein Ungeheuer ausgesehen, aber er war eins.« Sie seufzte. »Wenn du mich vor drei Jahren erlebt hättest, Merry, hättest du dir nie vorstellen können, daß ich einmal in einem Frauenhaus arbeiten würde. Aber ich hatte Glück, nicht wahr? Als ich anfing abzurutschen, war jemand da, der mir helfen konnte und wollte. Ich hatte Mummy und Robert, und sie haben mich aufgefangen und zur Vernunft gebracht. Damals wußte ich das natürlich nicht zu schätzen. Als wir aus London ins Pfarrhaus zogen, habe ich es gehaßt. Ich schloß mich in mein Zimmer ein und heulte ganze Eimer voll, aus Wut und Selbstmitleid. Ich fühlte mich völlig einsam und vermißte die Leute, die ich noch immer für meine Freunde hielt, obwohl sie in Wirklichkeit keine richtigen Freunde waren, und ich vermißte die
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