Mord mit kleinen Fehlern
eines. Das sind insgesamt vier Augen. Eine ganz schöne Menge.« Judy grinste, und Anne war sicher, dass sie einen Scherz gemacht hatte.
»Tja, für einen Psychopathen sieht er relativ gut aus. Er hat hellblonde Haare und blaue Augen, die eng beieinander stehen. Seine Nase ist lang und ein wenig gebogen, ein wenig wie ...«
»Moment mal.« Judy hielt eine Hand hoch, drehte sich vom Fenster weg und sah Marys Schreibtisch durch. Sie fand einen Block mit weißem Papier und einen spitzen Bleistift. »Fang nochmal an. Mit seinen Augen.«
»Was machst du da?«
»Ich werde ihn zeichnen.«
»Warum?«
»Wenn ich etwas zeichne, ist es für mich einfach greifbarer.«
Die Frau hat einen Dachschaden. Vielleicht habe ich doch nichts verpasst.
»Fang noch mal an. Mit den Augen.«
»Sie sind blau.« Anne beschrieb ihn detailliert. Es überraschte sie, dass sie sich noch so genau an Kevins Gesicht erinnerte. Sie hatte gelesen, dass viele Opfer von Stalkern von ihren Stalkern regelrecht besessen wurden, aber sie wollte lieber glauben, dass es einfach unmöglich war, das Gesicht eines Menschen zu vergessen, der einen mit Mordlust in den Augen angeschaut hatte. »Hellblau. Ein beängstigendes Blau. Übrigens hat er ein fliehendes Kinn.«
»Schon kapiert.« Judy zeichnete hoch konzentriert, stellte noch ein paar Fragen. Nach zehn Minuten drehte sie den Block um und hielt ihn hoch. »Wie ist es geworden?«
Mein Gott. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Es sah aus, als blickte ihr aus der Skizze Kevins Gesicht entgegen. Es war direkt vor Anne.
»Du hasst es.« Judys Gesicht wurde traurig.
»Nein! Oder ja! Ich hasse das Bild, weil es genauso aussieht wie Kevin! Ganz genauso. Du bist unglaublich!« Judy drehte den Block wieder um, von dem Ergebnis selbst überrascht. »Das habe ich noch nie gemacht, nach einer Beschreibung zu zeichnen. Für gewöhnlich zeichne ich nur nach Vorlage. Oder von Fotos.«
»Es sieht aus wie ein Phantombild von einem Polizeizeichner! « Anne trat um den Schreibtisch, stellte sich neben Judy und starrte die. Skizze an. Sie war fast so gut wie ein Fahndungsfoto. Schon keimte in ihr eine Idee.
»Darf ich es haben?«
»Klar.« Judy reichte ihr den Block. »Warum? «
Oje. »Willst du das wirklich wissen?«
»Ja.«
»Es ist ein Geheimnis.«
»Ich kann ein Geheimnis bewahren.«
Anne wusste nicht, ob sie ihr vertrauen durfte; sie wusste ja nicht einmal, ob sie ihr vertrauen wollte. Vielleicht würde Judy sie aufhalten wollen, es Bennie erzählen oder etwas ähnlich Vernünftiges tun. Anne hatte sich noch nie einer Frau anvertraut. Weder einer, die sie mochte, geschweige denn einer, die sie nicht mochte.
»Und? Willst du es mir nicht sagen?« Judy legte den Kopf schräg, ihr silberner Ohrring baumelte zur Seite. Auf dem Schreibtisch hob Mel das Kinn und schien voll Interesse auf ihre Antwort zu warten.
Die neugierige Katze.
9
Fünfzehn Minuten später stand Uncle Sam mit seinem großen, dicken, braunen Umschlag unten in der Lobby und wurde von Herb durch den
Personaleingang hinausgelassen. Er hielt Anne die Tür auf, um sicherzustellen, dass ihren Brüsten nichts geschah. »Du hast den Job bekommen?«,
fragte er. »Gratuliere! «
Danke. « Anne presste den Umschlag wie ein schusssicheres Schutzschild vor ihr UNABHÄNGIGE-FRAU- Shirt.
»He, wie heißt du, Schätzchen? Ich habe in der Gästeliste nachgesehen, konnte es aber nicht lesen.«
He, he. »Samantha. Ich bin in zehn Minuten wieder da. Lassen Sie mich dann wieder rein?«
»Klar. Einfach klopfen. Ich werde darauf warten.«
Die kleine Gasse führte zu einer Querstraße der Locust Street an der der offizielle Büroeingang lag. Menschenmengen, hauptsächlich Touristen, bahnten sich ihren Weg durch die Straße, nach Norden zum Parkway. Im Süden drängten sich die Presseleute und versuchten, an ROSATO & PARTNER heranzukommen.
Anne wartete, bis sich eine besonders dichte Menge an Fußgängern vorbeischob, dann fädelte sie sich in den Strom der Menschen ein, verkleidet als Uncle Sam mit Sonnenbrille und Bart und mit einem großen Umschlag, den sie schützend unter den Arm klemmte. Sie hatte darauf bestanden, den Umschlag selbst auszuliefern, trotz gegenteiliger Argumente von Judy. Anne war schließlich die neue Botin, und nur sie konnte den Job hier erledigen. Sie wollte hier unten in die Menge eintauchen, vielleicht entdeckte sie Kevin. Jedes Mal, wenn sie blonde Haare sah,
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