Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mord ohne Leiche

Mord ohne Leiche

Titel: Mord ohne Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
Vom Netzwerk:
die Menschen sich mir bereitwillig öffneten, und die mich zu
einer guten Detektivin machte? Sollte ich sogar — noch schlimmer — die
Begeisterung für meine Arbeit selbst verlieren?
    Ich dachte an Rae, an die Energie, mit
der sie sich auf die niedrigsten Ermittlungsaufgaben stürzte, an ihren Stolz,
wenn eine Spur sich als tragfähig erwies. Tag für Tag zeigte sie diesen
Enthusiasmus, und dabei schuftete sie für einen Lohn, mit dem sie sich nicht
einmal ein anständiges Apartment leisten konnte. Und erntete dazu noch wenig
Anerkennung für ihre Mühen, abgesehen von meinem eigenen (oft mageren)
Dankeschön. Wie schaffte sie das?
    Also, zum einen hatte Rae noch nicht
all das erlebt, was ich durchgemacht hatte. Sie hatte nicht Jahr um Jahr
Erfahrungen angesammelt, die sich zu lebenden Alpträumen zusammenballten. Sie
hatte noch nicht über ein Jahrzehnt damit verbracht, Geheimnisse aus dem Leben
anderer Menschen aufzudecken, Geheimnisse, bei denen man buchstäblich eine
Gänsehaut bekommen konnte. Sie hatte nicht immer wieder mit den Verwüstungen
und Verheerungen zu tun gehabt, zu denen menschliche Gier, Sorglosigkeit und
Dummheit führen konnten.
    Was ich mich also in Wirklichkeit
fragte, war, was mir zugestoßen war, daß ich meine Begeisterung nicht mehr
bewahren konnte. Und so lautete meine Antwort.
    Warte nur ein paar Jahre, Rae, dachte
ich. Einfach warten.
    Es war ein Schicksal, das ich ihr nicht
wünschte, aber ich konnte sie auch nicht davor bewahren. Weil sie — wie Larkey
es von Tracy gesagt hatte — nicht auf mich hören würde, nicht mehr, als auch
ich es in ihrem Alter getan hätte.
    Ich war zweimal um das Dreieck des
Parks vor unserer Kooperative gekurvt und hatte noch immer keine Lücke
gefunden. Auch beide Plätze in unserer Auffahrt waren besetzt. Einen Moment
lang dachte ich daran, den MG vor einem Hydranten abzustellen, aber die noch
frische Erfahrung und ein Blick auf die Häuser rechts und links der Straße, die
mit einem einzigen Streichholz in Brand zu setzen waren, belehrten mich eines
besseren. So zwängte ich den Wagen schließlich in eine nicht mehr ganz erlaubte
Lücke an der Ecke und eilte den Hügel hinauf.
    Weder im Empfangsraum noch in den
Büros, die zum Flur im Erdgeschoß führten, brannte Licht. Nur hinten aus der
Küche kam ein Schimmer. Ich ging hinein und sah Hank und Amy Barbour am Tisch
sitzen. Er schien zur Abwechslung mal nüchtern. Sie aß eine Schüssel
Getreideflocken.
    Ich blieb in der Tür stehen. Amys
Anwesenheit kam so unerwartet, und die Szene vor mir wirkte so heimelig und
normal im Gegensatz zu dem, was ich in den letzten beiden Stunden erlebt hatte,
daß ich nicht ein Wort hervorbrachte. Hank sah mich an und sagte: »Da bist du
ja. Du hast Besuch. Sie ist vor ungefähr einer Stunde gekommen — hungrig.«
    Heute sah Amy ganz wie das heimatlose
Mädchen aus, das man aufnehmen und dem man zu essen geben mußte. Ihre Artischockenfrisur
hing schlaff herunter. Ihr Gesicht war fahl und die Augen dunkel verschmiert.
Sie trug ein fleckiges Garfield-T-Shirt, zerknautschte Jeans und matschige
Gummistiefel. Ich hatte den Eindruck, daß sie ein Bad brauchen konnte. Kaum
hatte sie mich gesehen, fing sie an zu zappeln. Sie legte den Löffel beiseite
und leckte sich nervös einen Tropfen Milch aus dem Mundwinkel.
    Ich nickte ihr zu und sagte zu Hank:
»Hast du Jack oder Rae gesehen?«
    »Heute abend nicht. Für dich war vor
ein paar Minuten ein Anruf da. Von einem Mann, der fragte, ob du aus L. A.
zurück seist. Als ich das verneinte, fragte er, ob Amy sich mit dir in
Verbindung gesetzt habe. Ich sagte, sie sei hier, und er hat eingehängt.«
    »Das ist seltsam.«
    Hank zuckte mit den Schultern und stand
auf. »Ich nehme an, du und Amy, ihr habt eine Menge zu besprechen. Ich gehe
also.«
    »Bleibst du heute nacht hier?«
    »Nein.« Ohne weitere Erklärungen
verließ er den Raum.
    Ich sah ihm nach und fragte mich kurz,
ob das bedeutete, daß er sich mit Anne-Marie versöhnt hatte, aber dann wandte
ich mich Amy zu. »Essen Sie Ihre Flocken auf«, sagte ich und setzte mich.
    Sie sah sich ein wenig verstohlen um.
»Falls es Ihnen nichts ausmacht — ich glaube, ich schaffe es nicht mehr. Dieses
Vollkornzeug ist ziemlich widerlich, und es gibt nicht einmal Zucker.«
    »Normalerweise ist da eine Dose — «
    »Nein, ist sie nicht. Hank sagte, einer
von den anderen Anwälten hätte all das ungesunde Zeug gleich nach Neujahr
weggeschüttet.«
    Ich wußte, was sie meinte. Wir

Weitere Kostenlose Bücher