Mord unter Freunden - Ernestam, M: Mord unter Freunden - Kleopatras Kamm
vielleicht am Renvyle Point. Genau wie meine.«
Er antwortete nicht. Schaute nur durch die großen Fenster, die Richtung Hang und Meer gingen. Sie wusste, dass ihm klar war, dass sie die Wahrheit sprach. Sie wusste, dass er die Werke, die im Atelier standen und die er bald für groteske Summen verkaufen würde, eigentlich verabscheute. In diesem Augenblick hasste er sie, weil sie sich erdreistete, ihn darauf hinzuweisen.
»Hast du keine Kinder?«
Er sah sie wieder an. Diese Frage hatte ihn überrascht.
»Nein, das hat sich noch nicht ergeben. Sheila und ich haben darüber gesprochen. Wir wollen aber noch warten. Und du?«
»Soll ich die Frage so verstehen, dass du wissen willst, was ich in all den Jahren getan habe? In diesem Fall kann ich dir eine Antwort geben. Schließlich bin ich dann wirklich wieder nach Hause gekommen. Ich habe mir mein Wissen, das auch unserem Murrughach über die Runden geholfen hat, zunutze gemacht. Ich habe ein Buchführungsbüro mitbegründet und dort bis vor einigen Monaten gearbeitet. Dann haben meine Freunde und ich ein neues Unternehmen namens Kleopatras Kamm gegründet. Wir wollten die Probleme anderer Leute lösen. Genial, nicht wahr? In der gesamten Zeit habe ich in einer Wohnung ohne Gemälde an den Wänden gewohnt. Zwar
habe ich das Gemälde damals mitgenommen, auf das du so stolz warst. Friedhof in Carna. Ich fürchte jedoch, dass es etwas verändert ist. Ich habe es verbrannt und die Asche in die Urne mit den Fischhenkeln geschüttet. Sie gewann dadurch, fand ich, wurde irgendwie beseelt. Und natürlich hatte ich noch eine deiner Plastiken, an der ich mich erfreuen konnte. Natürlich Ceratias holboelli. Es war etwas schwierig, sie nach Hause zu transportieren, aber schließlich bin ich, wenn es darauf ankommt, eine findige Person.«
Sie hörte selbst, dass ihre Stimme kurz davor war, sich zu überschlagen, und zwang sich, ruhig durchzuatmen. Genauso ruhig wie jenes Mal, als sie bei Elsa Karlsten den ausgestopften Hund entdeckt hatte. Genauso ruhig wie damals, als sie Hans Karlsten das Kissen auf den Mund gedrückt hatte.
»Gibt es noch etwas, was du mir sagen willst, David?«
Er sah sie verwirrt an, und sie sah ein, dass sie nicht länger warten konnte. Sie beugte sich vor und nahm etwas aus der Tasche. Als sie wieder aufschaute, blickten seine hellblauen Augen, die sie einmal mehr als alles auf der Welt geliebt hatte, erstaunt und verängstigt. Das Gewehr war schwer, aber sie hielt den Lauf mit festem Griff in der einen Hand, während der Zeigefinger der anderen Hand ruhig auf dem Abzug ruhte.
»Es ist noch so vieles ungesagt, David. Ich finde, dass wir in aller Ruhe darüber sprechen sollten. Wir haben alle Zeit der Welt. Ich dachte, wir könnten einen kleinen Ausflug unternehmen. Luft atmen, die schon in Hunderten von Lungen gewesen ist. Und gibt es ein schöneres Ausflugsziel als Renvyle Point? Ich finde, du solltest fahren, David. Ich selbst würde gerne die Aussicht bewundern. Und mich vorbereiten.«
Sie kamen an dem Quäkerdorf Letterfrack vorbei und fuhren dann durch Tullycross. Mari dachte, dass man eigentlich den Croagh Patrick, den heiligen Berg, sehen können müsste,
wenn es nicht zu regnen begann. In Tully fragte sie in scherzhaftem Ton, ob sie nicht anhalten und ein Guinness trinken sollten. David antwortete nicht, sondern fuhr einfach weiter, den Blick starr geradeaus gerichtet. Sein Gesicht war grau, und als es zu regnen begann, wusste Mari, dass sie das Schicksal auf ihrer Seite hatte. Niemand würde bei diesem Wetter am Renvyle Point sein. Allen war klar, dass man leicht einmal danebentrat, wenn der Nebel die Augen verklebte und die Abstände verschwimmen ließ.
David parkte am Ende der Straße und fragte vorsichtig, was er jetzt tun sollte. Sie drückte ihm den Lauf des Gewehrs etwas fester an den Kopf und forderte ihn auf, auszusteigen. Er folgte ihren Anweisungen, und sie stieg auf der anderen Seite aus, richtete das Gewehr erneut auf ihn und befahl ihm, zur äußersten Spitze zu gehen. Sie folgte ihm. Vorsichtig sah sie sich um. Wie immer vermittelte ihr die Schönheit der Landschaft ein Gefühl des Ausgeliefertseins, als wäre sie ein Teil des Ganzen, aber ein Teil, das nicht recht passte. Bald würde das Gras auf den Hügeln wieder grünen, und die Schafe würden beginnen, mit roboterähnlicher Monotonie zu grasen. Im Hintergrund reckte die Ruine ihr Skelett und gestattete es dem Wind, die Zwischenräume zwischen den Steinen zu kitzeln.
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