Mord unter Freunden - Ernestam, M: Mord unter Freunden - Kleopatras Kamm
Gewehrs, nachdem sich die Kugel in ein unschuldiges Tier gebohrt hatte. Mamas Kleider ließen ihn nicht nur das Weiche, Sinnliche und Schöne empfinden, sondern vermittelten ihm auch die Illusion einer warmen Umarmung.
Aber Mama war nicht warm. Er wusste dies und hatte es auch aus den Mündern von Besuchern vernommen, die gerne tratschten, wenn sie der Meinung waren, dass sie niemand hören konnte. Oft versteckte er sich hinter dem Sofa und lauschte. Eine kühle Schönheit, hieß es gelegentlich. Grace Kelly in den schwedischen Wäldern. Oder, wenn die Besucher weniger tolerant oder kleinlicher waren: ein kalter Fisch, der sich für
was Besseres hält. Er dachte immer, mit dem kalten Fisch sei ein Gericht gemeint.
Sie war schön. Blond, blauäugig und alles andere als unschuldig, so, wie sie immer dargestellt wurde. Mit durchscheinender Haut. Musiklehrerin an der Schule und für die schönen Künste geboren, nicht für das wirkliche Leben. Ihre Wangen röteten sich immer nur dann etwas, wenn sie sich an den Flügel setzte und ihre Finger die Tasten zu den Klängen von Chopin, Grieg und Gershwin liebkosten. Er lag dann immer hinter dem Sofa und lauschte ihrem Spiel. Er war sich bewusst, dass sie ihn rauswerfen würde, wenn sie es wüsste, da sie ihn wieder und wieder ermahnte, sie müsse sich konzentrieren und bekomme von seinem ständigen Gerede Kopfschmerzen. Das lehrte ihn, sich zu beherrschen und die Worte zurückzuhalten. Dass sie dann in seinem Mund einen verzweifelten Kampf ausfochten, um sich einen Weg ins Freie zu bahnen, durfte ihn nicht weiter bekümmern. Er schluckte sie stattdessen herunter. Sie landeten dann in seinem Magen und machten ihm gelegentlich so zu schaffen, dass er nicht mehr aufrecht gehen konnte.
Noch besser war es, wenn sie sang. Er ertrug ihre Tonleitern gerne, immer rauf und runter, ihre Artikulationsübungen und ihre Versuche, Bruststimme und Kopfstimme zu finden, weil er wusste, dass ihr dann Melodien gelangen, die Türen zu verbotenen Gefühlen und anderen Lebensarten öffneten. Auf die klassischen Arien hätte er zwar verzichten können, aber es war es doch wert, sie sich anzuhören, da sie immer den offiziell »vulgäreren« deutschen Kabarettcouplets oder den französischen Chansons vorausgingen. Marlene Dietrich, Edith Piaf, Lieder aus der Dreigroschenoper , Songs aus der West Side Story , aus Sound of Music und Cabaret versetzten ihn immer noch innerlich in Ekstase und ließen ihn Dinge empfinden, die er sonst nie empfand.
Manchmal, wenn seine Eltern nicht zu Hause gewesen waren,
hatte er sich Mamas Liederhefte und Zeitschriften angesehen. Dort waren die Frauen abgebildet. Frauen mit toupierten Haaren, Frauen, die eine Haut hatten, so glatt wie Eierschalen, und Wimpern, die die Wangen kitzelten, Frauen, die einen Blick hatten, der ihn an den dunklen Blick eines sterbenden Rehs erinnerte. Frauen, die Spitze und Goldlamee trugen, Seidentücher und Handschuhe, Hüte und hohe Absätze. Frauen, die vermutlich berauschend dufteten, wenn er ihnen nur nahe kommen konnte. Als er noch richtig klein war, hatte er seine Nase in den Zeitschriften vergraben und versucht, ihren Duft einzusaugen, aber es roch nur trocken nach Papier. Später dann überließ er seiner Fantasie diese Arbeit.
Vergeblich hatte er nach ähnlichen Frauen in seiner Umgebung gesucht, aber recht bald feststellen müssen, dass die Einzige, die sich mit den Frauen auf den Bildern messen konnte, seine Mama war. Die anderen Frauen des Dorfes trugen praktische Hosen und weite Hemden, nicht selten auch eine Schürze und das Haar in einem Knoten. Die Wangen dieser Frauen sahen nicht aus wie aus Porzellan, sondern waren pockennarbig, gerötet und rissig. Sie hatten schmale Lippen und verwendeten keinen Lippenstift. Mit stabilen Stiefeln gingen sie in den Wald und pflückten Beeren oder Pilze, versorgten das Vieh, putzten ihren Kindern die Nase und sangen höchstens einmal mit, wenn das Orchester von Thore Skogman im Radio spielte, oder sie sangen sonntags in der Kirche. Er glaubte, dass seine Mutter genauso litt wie er selbst, weil sie sich unverstanden fühlte, aber das einzige Mal, als er das Thema zur Sprache brachte, erklärte sie, sie verstünde nicht, wovon er rede.
»Aber die anderen sind nicht wie du«, versuchte er es erneut.
»Aber mein Kleiner, es gefällt mir, anders zu sein«, antwortete Mama. Erst in den letzten Jahren war ihm dann aufgegangen, dass er alles vielleicht missverstanden hatte. Es war gar
keine
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