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Mord unter Freunden - Ernestam, M: Mord unter Freunden - Kleopatras Kamm

Titel: Mord unter Freunden - Ernestam, M: Mord unter Freunden - Kleopatras Kamm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Ernestam
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Blumensträuße, teilweise bereits vollkommen verwelkt. Sie betrachtete den nächsten Grabstein, einen riesigen weißen Stein, den eine weinende Madonna zierte. Sie versuchte die Inschrift zu entziffern, konnte aber nur den Namen lesen. Catherine Murilla Joyce, geboren am 28. Juni 1965. Verstorben 23 Jahre später. Sie wurde nur 23 Jahre alt, dachte sie, ehe sie einigermaßen wieder zur Besinnung kam. 1965. Dieser Friedhof war also kein Relikt des vorigen Jahrhunderts. Vielleicht wurde er immer noch benutzt. Vielleicht wohnten die Verwandten von
Catherine Murilla Joyce ganz in der Nähe. Vielleicht trauerten sie um eine Tochter, eine Schwester, vielleicht trauerte auch jemand um eine Geliebte. Vielleicht kam jemand jede Woche mit frischen Blumen hierher, um die Trauer zu lindern und ihr Andenken zu ehren.
    Es regnete inzwischen so stark, dass sie nur ein kleines Stück den Hang hinaufsehen konnte. Dort stand vermutlich eine Kirche oder eine Kapelle. Zielstrebig lief David zwischen den Gräbern hindurch und blieb ab und zu stehen, um einen Grabstein zu betrachten. Mari ging hinter ihm her. Sie war bis auf die Haut durchnässt und fing an mit den Zähnen zu klappern. Eine seltsame Melodie begleitete die Namen, die sie auf den Grabsteinen lesen konnte. Sie vereinigten sich zu einem schreienden, klagenden Chor in ihrem Kopf. Burke. Flaherty. Walsh. O’Halloran. Namen, die von eisiger Trauer und stoischem Glauben an das ewige Leben zeugten. »Oh Mary, pray for us.«
    Mary. Bete für uns. Stein um Stein betete die Heilige Mutter um Barmherzigkeit. Plötzlich schienen die grauen Felsblöcke zum Leben erwacht zu sein. Schwarze, aufgerissene Münder. Sie meinte, die Grabsteine flüstern, schreien, keuchen und rufen zu hören. Sie beteten um Hilfe. Oh Mary, pray for us. Mari. Mari. Mary. Mari.
    »David, ich friere. Können wir nicht zum Auto zurückgehen? David? Was willst du mir eigentlich zeigen? Sag doch was. David?«
    Sie rannte hinter ihm her und fasste ihn am Hemd. Er drehte sich um, und sie sah, dass sie nicht mehr zu ihm durchdringen würde. Seine Augen glänzten fiebrig, und sein Haar klebte ihm im Gesicht. Der Regen lief ihm die Wangen hinunter, als weinte er. Er packte sie so fest an den Armen, dass es weh tat.
    »Siehst du, was ich sehe?«, rief er.
    »Was denn?«, schrie sie zurück. Sie war so durchgefroren,
dass sie sich nicht mehr verstellen wollte. Er schüttelte sie und packte sie noch fester.
    »Männer und Frauen. Alte und Junge. Mütter und Väter. Töchter und Söhne. Kinder. Vergraben. Die einen gestern, die anderen vor fünfzig Jahren, aber alle für die Ewigkeit. Du liest die Namen, und du denkst, der wurde also achtundsechzig, und sie vierundachtzig, und der hier, der wurde nur fünfzehn. Du überlegst dir vielleicht, woran sie gestorben sind. Ob sie krank wurden oder einen Unfall hatten. Vielleicht war es das Alter. Der Organismus wollte einfach nicht mehr. Du fragst dich, was sie mit ihrem Leben angefangen haben. Wie sie gelebt haben. Was sie für eine Arbeit hatten. Was sie dachten, was sie fühlten. Kann man irgendwo noch die Luft atmen, die sie in ihren Lungen hatten? Kann man irgendwo noch die Gedanken fassen, die sie gedacht haben? Hat irgendjemand ihre Wünsche und Träume geerbt? Was denken die Leute, wenn sie diese Namen lesen? Denken sie überhaupt an etwas? Das ist nämlich die Frage. Denn eines wissen wir. Alle kommen hierher, aber niemand kommt von hier weg. Haben sie außer der Trauer einer Mutter und der Verlassenheit eines Kindes irgendwelche Spuren hinterlassen? Darüber denke ich nach, Mari. Ich denke nicht darüber nach, wo sie hin sind, sondern darüber, was sie zurückgelassen haben.«
    Sein Gesicht war aufgewühlt, als er weitersprach.
    »Weißt du, was für mich das Grauenvollste wäre, Mari? Dazuliegen, auf diesem Friedhof oder einem anderen, mit einer Statue auf meinen traurigen Überresten und dann eine Ewigkeit lang mitanzuhören, wie die Menschen vorbeigehen, ohne stehenzubleiben. Die Gewissheit, dass ich außer einigen betrübten Seelen, die mich einmal kannten und mein Andenken ehren wollen, nichts zurücklasse. Ein Andenken, das sich in einem Zeitraum, der verschwindend kurz ist, wieder in Nichts auflösen wird. Stell dir vor, von David Connolly bliebe einzig ein vorbeiflatternder Gedanke übrig … so wie der angenehme
Essensduft, der noch in der Küche hängt. David, richtig. Ganz nett eigentlich. Ich erinnere mich noch, wie wir als Kinder einmal fischen waren.

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