Mord zur Geisterstunde
das seltsam – es war doch bestimmt ungesetzlich, einfach eine Tasche aufzumachen, die jemand anderem gehörte, und darin herumzuschnüffeln?
»Ganz gewiss nicht!«
Was dachte sich der Mann eigentlich? Nicht, dass sie es nicht in Erwägung gezogen hätte. Aber ihr war es als die einzig richtige Lösung erschienen, die Tasche als Fundsache zur Polizei zu bringen. Jetzt schien ihr die Idee auf einmal nicht mehr so schlau zu sein.
»Sehen Sie mal, meine Liebe«, sagte der Polizist in dem herablassenden Tonfall, der gewöhnlich für die reiferen Semester bestimmt war – die sehr viel reiferen. »Warten Sie einfach noch eine Weile. Vielleicht hat die Dame beabsichtigt, Ihnen die Tasche anzuvertrauen, bis sie zu Ihnen ins Hotel kommt. Ich schlage vor, Sie nennen mir den Namen der Dame und ich schreibe ihn auf. Und wenn sie kommt und nach ihrem Eigentum fragt, schicke ich sie zu Ihnen. Machen wir es so?«
Honey betrachtete das ausdruckslose Lächeln, die blassen Triefaugen. Hinter ihr bildete sich bereits eine Warteschlange. Ihre Augen wanderten zu der Tür, die zu Steves Bereich führte. Sie wünschte sich, dass er einfach auftauchen und ihr eine Tasse Kaffee anbieten würde.
»Ist Steve Doherty im Haus?«
»Nein. Im Augenblick ist er wegen eines Falles unterwegs. Wenn Sie mir jetzt bitte den Namen der Dame nennen würden …?«
|52| Er deutete mit einer ungeduldigen Bewegung seines Kinns auf die wartenden Menschen.
»Lady Templeton-Jones.«
Er schrieb ihn auf.
»Und wo haben Sie die Dame zum letzten Mal gesehen?«
»In der Nähe der Assembly Rooms.«
Das notierte er auch.
»Waren Sie aus einem bestimmten Grund in den Assembly Rooms?«
»Ja. Es gehörte zu einem Gespensterspaziergang. Sie hat den auch mitgemacht.«
»Ah ja.« Seine Stimme klang, als hätte er nicht gerade viel für Gespensterspaziergänger übrig, als würde er sie am liebsten wie Ladendiebe oder Exhibitionisten zu einer kleinen Haftstrafe verdonnern. »Ich gebe Ihnen dann Bescheid, wenn sie kommt und sich nach ihrem Eigentum erkundigt.« Er zog einen Strich unter die Notizen. »Der Nächste?«
Solcherart abgefertigt und immer noch mit der braunen Ledertasche über der Schulter, überließ Honey die Warteschlange und den Polizisten ihrem Schicksal.
Draußen blieb sie kurz stehen und seufzte erleichtert. Drinnen in der Wache war es unerträglich heiß gewesen. Es war wirklich kein Wunder, dass alle in Hemdsärmeln arbeiteten.
Die frische Luft weckte ihre Lebensgeister wieder. Es war ein guter Tag für einen Spaziergang, überlegte sie. Ihre Füße waren schon zum gleichen Schluss gekommen und wanderten bereits auf Baths bestes Auktionshaus zu.
Honey war Sammlerin. Sammlerin von Dessous, Strümpfen, Strumpfbändern, manchmal Handschuhen, Schuhen, Ridikülen und Sonnenschirmchen aus alten Zeiten. Sie interessierte sich für jene hübschen, kleinen und weniger auffälligen Accessoires, die zu historischen Gewändern gehörten. Große Roben und Hüte brachten entsprechend große Preise ein. Die überließ sie lieber denen mit dem großen Geld.
[ Menü ]
|53| 10
Heute war die Auktion nicht nach ihrem Geschmack: allgemeine Haushaltsgegenstände.
Sie verzog das Gesicht, um ihrem Abscheu Ausdruck zu geben. Auf den Stühlen würden wahrscheinlich ganze Bataillone von Gebrauchtmöbelhändlern hocken, die darauf spekulierten, genügend Gegenstände zu ergattern, um einen riesigen Lastwagen voll von dem Zeug nach Nordamerika zu verschiffen.
Honey spazierte hinein, einerseits, um sich ihre Vermutung bestätigen zu lassen, und andererseits, um dem Auktionshelfer »guten Tag« zu sagen.
Alistair mit dem roten Bart war groß und breit und nahm auf seinem Stammplatz hinter der Theke, wo man die ersteigerten Gegenstände bezahlte, einigen Raum ein.
»Nicht Ihr Tag heute, Mädchen.« Seine laute Stimme passte zum Rest, übertönte beinahe die Litanei des Auktionators.
»Nein. Wann gibt es die nächsten Sammlerstücke für mich?«
Aus dem roten Gestrüpp seines Bartes schoben sich gespitzte Lippen hervor.
»Wir haben bald eine Auktion von interessanten Sachen, wenn auch vielleicht für Sie nicht unbedingt was dabei ist. Keine heißen Höschen oder spitzenbesetzten Strumpfbänder. Auch keine bombastischen Büstenhalter.« Er grinste. Damit bezog er sich auf einen Zuckerhut-BH, den sie vor einiger Zeit erworben hatte. »Hat eher was mit Seefahrt zu tun«, fügte er mit einem genüsslichen Lippenschmatzen und weit entrücktem Blick hinzu. »Das ist
Weitere Kostenlose Bücher