Mordkommission
stocherten, ohne dass sie jedoch etwas Tatrelevantes entdecken konnten.
Nachdem schließlich die Durchsuchungsaktion ergebnislos beendet worden war, machte sich Enttäuschung breit. Durch einen regulären
Eingang konnte der Täter das Anwesen nicht verlassen haben, dann hätte ihn die Zeugin bemerken müssen. Auch hatten wir kein
offenstehendes Fenster bemerkt, durch das er hätte fliehen können. Hatte er womöglich einen Komplizen, der ihm die Flucht
durch seine Wohnung und ein Fenster zur Rückseite des Anwesens ermöglicht hatte? Hatte der anonyme Anrufer vielleicht diesen
Mittäter beobachtet? Was hatte es zu bedeuten, dass in der besagten Erdgeschosswohnung offenbar frisch gewaschene Messer in
der Spüle lagen, obwohl der Mieter angab, bis zum Klingeln der Polizei geschlafen zu haben? Wenn aber dieser Mieter etwas
mit der Sache zu tun hatte, warum hatte ihn unsere Tatzeugin dann nicht gesehen? Die Sache wurde immer undurchsichtiger.
Ich beratschlagte mich wieder einmal mit meinen Kollegen und dem Staatsanwalt. Konnte es sich bei dem Angriff um einen gezielten
Mordanschlag handeln? Nachdem wir mittlerweile aus dem Krankenhaus erfahren hatten, dass die Verletzte nur rein zufällig in
dieser Straße geparkt hatte, in der sie nie zuvor gewesen war, schied die Möglichkeit aus, dass ihr der Täter gezielt aufgelauert
hatte. Die Verletzte befand sich zwar außer Lebensgefahr, aber es bestand die Befürchtung, dass sie womöglich für immer querschnittsgelähmt
bleiben würde. Was sie als ambitionierte Marathonläuferin besonders hart traf. Die Frage, ob es irgendjemanden gebe, der ihr
nach dem Leben trachten könnte, hatte sie überzeugend verneint.
Wir entwickelten die verschiedensten Theorien, wie wir dies bei ungeklärten Fällen immer wieder machen, so lange, bis im Idealfall
nur noch eine Möglichkeit übrigbleibt. Eine dieser Hypothesen etwa lautete, dass das hübsche Mädchen |68| dem Täter zufällig in dem Haus, in dem es den Jungen betreut hatte, begegnet war und er ihm dann gefolgt war. Wir erleben
immer wieder, dass Psychopathen scheinbar völlig unmotiviert Taten begehen, nur weil ihnen zum Beispiel »eine Stimme plötzlich
befohlen hat zu töten«.
Also machte ich mich mit einem Kollegen zu der Adresse auf, wo das behinderte Kind lebte. Das Haus erwies sich als mehrgeschossiges
Asylbewerberheim. Das Verwaltungsbüro war aufgrund der mittlerweile fortgeschrittenen Stunde bereits geschlossen. Es gab ein
Klingelbrett am Hauseingang mit Appartementnummern, Namen standen nicht dran. Auch an den meisten Wohnungstüren fanden sich
keine Namensschilder; lediglich an einigen hingen Zettel oder Klebestreifen mit kaum leserlicher Beschriftung. Wir klingelten
an etlichen Türen. Jedes Mal, wenn wir unsere Dienstausweise vorzeigten, veränderte sich das Verhalten der Bewohner schlagartig.
Tiefes Misstrauen war zu verspüren, niemand sprach oder verstand plötzlich mehr Deutsch oder eine der uns geläufigen Fremdsprachen.
Wir sahen ein, dass ohne Hausverwaltung und ohne die Hilfe von Dolmetschern jede weitere Ermittlung in diesem Heim im Moment
sinnlos war.
Bis wir die zahlreichen Berichte im Zusammenhang mit den bisherigen Ermittlungen und der Durchsuchung zu Papier gebracht hatten,
war es weit nach Mitternacht geworden. Doch bereits frühmorgens versammelten wir uns wieder im Büro, während die Stadt ringsum
erst langsam erwachte. Wieder und wieder stellten wir die unterschiedlichsten Theorien auf, um sie ebenso oft wieder zu verwerfen.
Da meldete sich ein Kollege zu Wort, der gerade die Vernehmung der Augenzeugin vom Vorabend gelesen hatte. »Komisch«, brummelte
er, »die Zeugin hat ausgesagt, dass sie einen Nachbarn gebeten hat, ihr ein Glas Wasser für die Verletzte zu geben, weil diese
Durst habe. Dabei weiß doch jedes Kind, dass man Verletzten mit einer Bauchraumverletzung nichts zu trinken geben darf!« Spontan
ergänzte ein weiterer Kollege den Gedanken: »Und das, obwohl die |69| Zeugin doch sagte, dass sie O P-Schwester sei – da muss sie das doch auf jeden Fall wissen!« Mit einem Mal kam Bewegung in die Truppe. Kaum zehn Minuten später stand
fest, dass die Zeugin wegen massiver psychischer Probleme seit vielen Jahren arbeitsunfähig war und unter Pflegschaft stand.
Ein besonderes Problem schien dabei für sie zu sein, dass sie in jedem Mann, der ihr begegnete, ihr Idol Heiner Lauterbach,
den Filmschauspieler, zu sehen glaubte!
Weitere Kostenlose Bücher